WILDE TIERE UND HAUSTIERE



Soobol

Soobol war ein alter Hund, der sein ganzes Leben lang bei seinem Hausherrn und seiner Hausfrau gelebt und ihr Haus gut bewacht hatte. Nun war Soobol ein alter Hund und konnte das Haus nicht mehr bewachen. Die Hausfrau sagte ihrem Mann, daß dieser Soobol in den Wald bringen soll, wo ihn vielleicht ein Wolf auffressen wird, da man von ihm ja keine Hilfe mehr zu hoffen hatte.
Der Hausmann hielt das für richtig und brachte Soobol in den Wald, wo er ihn an einen Baum festband. Er selbst ging nach Hause.
Soobol sah, daß es nicht mehr mit rechten Dingen zugeht und fing an zu heulen. Darauf kam ein Wolf aus dem Wald, fand den heulenden Soobol und sagte:
"Guten Tag, Gevatter! Warum bist du hier?"
"Mein Herr und seine Frau dachten, daß ich schon zu alt bin, um das Haus bewachen zu können. Sie brachten mich in den Wald und banden fest, damit mich vielleicht ein Wolf auffressen würde."
"Och, lieber Gevatter, ich werde dich wohl nicht auffressen!" Und der Wolf ließ Soobol frei. Soobol ging zurück nach Hause. Der Bauer und die Bäuerin sprachen untereinander: "Daß diesen Hund sogar Wölfe nicht fressen."
Na gut. Sie lebten so einige Tage weiter. Soobol lebte wieder zu Hause. An einem Tag ging der Bauer mit seiner Frau Roggen ernten und sie nahmen ihr kleines Kind in Windeln auf das Feld mit und legten es auf den Feldrand schlafen.
Soobol, dem es langweilig war, allein zu Hause zu bleiben, kam ebenso aufs Feld und schlief dort.
Nach einiger Zeit kam der Wolf, griff das Kind zwischen seine Zähne und flüchtete in den Wald. Der Bauer und die Bäuerin fingen an, den Wolf schreiend zu verfolgen. Darauf wurde Soobol wach und sah das Kind zwischen den Zähnen des Wolfs. Er lief dem Wolf nach, nahm das Kind weg und brachte es der Hausfrau zurück.
Der Bauer und seine Frau freuten sich sehr. Von nun an ließen sie Soobol nicht mehr draußen schlafen, die Frau machte ihm in einen Wollkasten einen Schlafplatz und gab ihm weiches Kinderfutter zu fressen.
Der Bauer war Schuster und machte ihm rote Lederschuhe. Sie wollten ihn nicht mehr über Nacht draußen schlafen lassen. Doch ging Soobol auf die Treppe schlafen. Er war gerade eingeschlafen, als der Wolf schon kam und sagte:
"Grüß dich, Gevatter, woher hast du so schöne Schuhe?"
"Von meinem Herrn," sagte Soobol.
"Wie könnte auch ich solche bekommen?" fragte der Wolf und Soobol erklärte:
"Bringe eine große Kuh hierher auf die Treppe, dann wird mein Herr schon Schuhe machen."
Der Wolf begehrte sich Schuhe und ging schnell eine Kuh suchen. Nach einer Weile kam er schon mit einer großen Kuh zurück, brachte die Kuh auf die Treppe vor Soobols Nase und fragte:
"Reicht das?"
Soobol vermutete, daß falls der Bauer Zeit hat, können die Schuhe schon bis zum Morgen fertig sein.
Dann ging der Wolf weg und Soobol legte sich schlafen.
Es kam der nächste Morgen. Der Bauer kam hinaus und sah zu seinem Schreck eine große Kuh auf der Treppe liegen. Der Bauer rief seine Frau, damit auch sie das Wunder sehen könnte und nun überlegten sie, daß die Kuh vielleicht deshalb geschickt worden war, weil sie schon lange kein Fest gefeiert hatten, also war es an der Zeit, ein großes Fest zu machen.
Es verging auch dieser Tag und es wurde wieder Nacht. Wieder wollte Soobol nicht im Zimmer schlafen, er ging auf die Treppe schlafen. Er konnte wieder nur kurz schlafen, bis der Wolf auf die Treppe kam und sagte:
"Grüß dich, Gevatter, werden meine Schuhe schon bald fertig?"
Darauf sagte Soobol, daß die Schuhe noch nicht fertig seien, da es an Leder mangelte. Wenn du Schuhe willst, mußt du noch einen tüchtigen Ochsen bringen.
Der Wolf in seiner Gier, Schuhe zu bekommen, ging das nächste Tier holen und kam bald mit einem großen tüchtigen Ochsen zurück. Er fragte wieder:
"Bekomme ich denn jetzt Schuhe?"
Soobol erklärte wieder - falls der Bauer Zeit zum Nähen hat, werden die Schuhe bald fertig sein.
Der Wolf ging weg und Soobol schlief auf der Treppe neben dem Ochsen ein.
Es kam der nächste Morgen. Der Bauer wollte zur Arbeit gehen und wunderte sich, wie soll ein solcher Ochse auf die Treppe gekommen sein. Er ging ins Haus und rief seine Frau, damit auch sie das Wunder sehen könnte. Wieder meinten sie, alles sei deshalb, weil sie schon lange kein Fest gehabt hatten, man müsse jetzt ein Fest machen. Sie fingen an, das Fest vorzubereiten und der Tag ging so schnell, daß sie es gar nicht merkten.
Es wurde wieder Abend und Soobol mochte wieder nicht im Haus schlafen, er ging auf die Treppe und legte sich dort schlafen. Er konnte aber gerade einschlafen, als wieder der Wolf auf die Treppe kam und sagte:
"Grüß dich, Gevatter, sind meine Schuhe schon fertig?"
Soobol erklärte, daß der Bauer jetzt keine Zeit zum Nähen habe, weil jetzt ein Fest vorbereitet wird.
Der Wolf hörte zu und bat: "Gevatter, lade auch mich zum Fest ein!"
"Komm, ich werde dich wohl am wenigsten verbieten," sagte Soobol und der Wolf ging zurück in den Wald, nachdem er versprochen hatte, zur Festzeit zurückzukommen.
Na gut. Es wurde das Fest bekanntgegeben und alle Verwandten wurden eingeladen. Nachts im Dunkeln kam wieder der Wolf auf den Hof und sagte zu Soobol:
"Grüß dich, Gevatter! Laß uns zum Fest gehen!"
Soobol war einverstanden und sie krochen im Dunkeln unter den Ofen und feierten dort. Soobol brachte vom Tisch Branntwein und Speisen und sie fingen an zu trinken.
Die Festgäste aßen nocht spät am Abend am Tisch und einige von ihnen sangen. Soobol und der Wolf feierten ihr Fest unter dem Ofen und wurden schon ganz betrunken. Der Wolf fragte Soobol:
"Gevatter, ich möchte singen!"
"Du darfst nicht, sie werden das hören!"
"Nein, sie werden das nicht hören, ich werde doch sehr leise singen," bat der Wolf weiter.
"Na, meinetwegen kannst du singen, aber nur ganz leise," sagte Soobol.
Dann murmelte der Wolf leise:
"Au-au, au-au!"
Die Festgäste hörten es trotzdem und sagten dem Bauer und der Bäuerin, daß ein Wolf im Haus sei. Diese hatten das Heulen aber nicht gehört und glaubten es nicht; sie meinten, es könne der alte Hund unter dem Ofen sein.
Die Gäste waren damit zufrieden und fingen wieder an, zu essen und sich zu unterhalten.
Der Wolf aber, als er noch einmal gegessen und getrunken hatte, fragte wieder Soobol:
"Gevatter, soll ich auch etwas singen?"
Soobol erwiderte, er soll es lieber lassen, sonst würden die Leute das hören.
"Ich singe ganz leise," versprach der Wolf.
"Gut, du kannst meinetwegen singen, aber wirklich nur ganz leise, damit keiner uns hören wird," unterrichtete Soobol.
Dann sang der betrunkene Wolf schon ziemlich laut:
"Auu-auu, auu-auu!" Er konnte sein Lied auch selbst nicht mehr ganz verstehen.
Die Gäste hörten die Stimme des Wolfs und sprangen auf. Wer nahm eine Axt, wer einen Haken, wer was nur konnte und sie zogen den Wolf von unter dem Ofen heraus und schlugen ihn tot.
Soobol aber lebte weiter und lebt vielleicht heute noch bei dem Bauer und der Bäuerin, falls er noch nicht verstorben ist.

73. Soobol. S 18518/35 (6) < Setu - Mihhail Pihlapuu < Anne Luikpere, geb. 1895 (1929). - AT 101 + 102 + 100 - Der ausgediente Hund als Kinderretter, 57 Varianten + Der Hund als Schuster, 16 Varianten + Der Wolf auf der Hochzeit, 47 Varianten. Ein populäres setukiesisches Märchen. Es gibt 9 Varianten mit Kontaminationen von denselben Typen; es begegnen auch andere Kontaminationen: AT 100 + 3/4, 102 + 47 A, 101 + 100, 100 + 103/4.




Der Hund und der Bär am Bienenstock

Riks war schon ein alter Hund. Weder der Bauer noch die Bäuerin wollten ihn weiter füttern. Die Bäuerin sagte seinem Mann:
"Bringe Riks in den Wald. Warum müssen wir ihn umsonst füttern, daß ist eine sinnlose Mühe!"
Der Bauer ging in den Wald, nahm Riks mit und ließ ihn im Wald bleiben. Riks wurde hungrig und fing an zu heulen:
"Wie werde ich, Armer, Nahrung bekommen?"
Ein Bär hörte das, kam zu Riks und lud ihn ein:
"Komm, Gevatter, ich habe Kuhbraten. Komm und friß, soviel dein Herz begehrt."
Riks ging, fraß und war froh. Er lebte wie ein Herr auf Kosten des Bären.
"Weißt du, Riks," sagte der Bär eines Tages, "heute ist Sonntag, heute sollten wir eine etwas bessere Speise haben. Laß uns nachsehen, wie es den Bienen geht."
"Geh nicht, lieber Bruder, die Bienen verstehen keinen Spaß, paß auf, daß sie dir das Auge nicht ausstechen."
Der Bär wollte nichts hören und ging trotzdem.
Der Bauer wußte wohl, was die Lieblingsspeise des Bären war und hatte für ihn einen Bienenstock als Falle vorbereitet. Der Bär sah den Bienenstock und wollte ihn überfallen.
"Bewege den Bienenstock nicht, daß ist eine Falle!" rief Riks.
Der Bär wollte ein Brett aus dem Bienenstock herausziehen, aber Riks ließ ihn das nicht tun. Der Bär zog das Brett trotzdem heraus. Der Bienenstock ging sofort mit einem großen Knall zu und der Bär hatte seine Pfote im Gefängnis.
Von dieser Zeit an hörte der Bär immer den Rat von Riks, weil er wußte, daß dieser klüger war.

74. Der Hund und der Bär am Bienenstock. H II 17, 285/6 (11) < Vigala - M. J. Eisen (1889/90). - Mtº 101 A - 1 Variante.




Der Hund als Gefährte des Wolfes

In der alten Zeit sah ein Wolf einen alten armseligen Hund auf dem Weg gehen und hatte gleich einen Plan fertig. Er sagte zu dem Hund:
"Komm mir zum Gesellen. Du wirst sonst keine Pflichten haben, als bei mir zu bleiben und aufzupassen, daß uns kein Unglück bedroht. Dafür wirst du nur das Beste zur Nahrung haben - so viel, wie du nur willst!"
Der Hund war mit dem Plan einverstanden und ging mit.
Ihr Weg führte durch einen dicken Wald. Plötzlich blieb der Wolf stehen und sagte dem Hund:
"Hier ist die richtige Stelle zum Mittagessen!" - Als er so gesagt hatte, biß er den Hund tot und fraß ihn auf.

75. Der Hund als Gefährte des Wolfes. E 16622/3 (35) < Paistu, Kaarli - J. P. Sõggel (1895). - Mtº 102 B - 7 Varianten. Die Erzählung ist wahrscheinlich aus einer Druckschrift (Willmann 1782) in den Volksmund gelangt.




Die Katze als Frau Fuchs

In alten Zeiten prahlte ein Fuchs vor einem Wolf und einem Bären, daß er eine so böse Frau habe, die die beiden anderen Tiere zerreißen könne.
Der Wolf und der Bär sagten:
"Geh und bringe sie zu uns, dann werden wir sehen, wie tüchtig sie ist."
Der Fuchs ging seine Frau holen.
Inzwischen ging der Wolf unter einen Reisighaufen und der Bär kletterte auf einen Baum.
Der Wolf fragte:
"Kannst du sie schon kommen sehen?"
Der Bär sagte:
"Nein."
Der Wolf fragte zum zweiten Mal:
"Kannst du sie schon kommen sehen?"
Der Bär sagte:
"Dort kommt jemand, selbst klein, aber mit einem großen Pfahl auf dem Rücken."
Dann kam der Fuchs mit der Katze unter den Baum. Der Wolf dachte: "Vielleicht ist die Spitze meines Schwanzes draußen geblieben" und bewegte die Spitze seines Schwanzes.
Die Katze griff die Spitze des Schwanzes an. Der Wolf erschrack und lief schnell in den Wald. Die Katze erschrack ihrerseits und kletterte auf den Baum. Der Bär fiel vom Baum herunter, so, daß sein Halsknochen zerbrach.
Der Fuchs lachte darüber.

76. Die Katze als Frau Fuchs. H II 45, 640 (27) < Valjala - M. K(ustavsohn) und A. V(esik) (1875). - AT 103A - 19 Varianten.




Die einzige Fähigkeit der Katze

Einmal kam im Wald einer Katze zufällig ein Fuchs entgegen. Die Katze sah den Fuchs und dachte:
"Das ist wohl ein großer Mann. Ich muß ihn doch grüßen."
Als sie einander näher kamen, sagte die Katze:
"Seien Sie gegrüßt, Herr Fuchs! Wie geht's!"
Der Fuchs ärgerte sich über einen solchen Gruß und fing an, die Katze zu beschimpfen:
"Ach du hast den Mut, mich zu grüßen! Du Mäusekönig, Feinschmecker, bunthaariger Tor, Bartfälscher! Was kannst du überhaupt von der Welt verstehen? Was hast du überhaupt gelernt! Siehe, ich bin der richtigste Mann in diesem Kirchspiel! Ich kann fünfhundert Possen und dreihundert Streiche, außerdem habe ich einen Sack voll Schlauheiten zum Vorrat. Du kommst mich grüßen!"
Der Fuchs hatte nicht gemerkt, daß inzwischen ein Jäger mit Hunden nahe gekommen war. Nur die Katze konnte das sehen und da es keine andere Rettung gab, kletterte sie auf eine Fichte, während die Hunde den Fuchs angriffen.
Als die Katze die Lage der Sachen sah, rief sie dem Fuchs zu:
"Herr Fuchs, was jetzt?! Wo sind Ihre fünfhundert Possen und dreihundert Streiche! Wo ist der Sack mit Schlauheiten? Öffnen sie ihn doch! Jetzt bist du in der Klemme!"
Die Hunde bissen ihn tot, aber der Katze konnten sie nichts antun. So bekam der Prahler seinen Lohn.

77. Serotka. Eine estnische Siedlung in Rußland. Die einzige Fähigkeit der Katze. H II 57, 785/6 (6) < Serotka asundus - Hans Wabel (1898). - AT 105 - 7 Varianten.




Tausend Gedanken

Ein Mann ging in den Wald, grub dort ein tiefes Loch und bedeckte es mit Ästen, damit Tiere, wenn sie darauf treten, einfallen würden.
Ein Fuchs suchte sich Nahrung. Er kam, seine Nase hochhaltend und riechend dem Loch immer näher, wollte übers Loch gehen, aber fiel in das tiefe Loch hinein.
Dort in der Nähe lebte ein Kranich, der sich ebenso Nahrung suchend dem Loch näherte. Als er über das Loch gehen wollte, fiel er zu seinem Unglück auch ins Loch.
Im Loch dachten die beiden: wie könnte man sich aus einem so tiefen Loch retten. Der Fuchs ging im Loch herum und redete:
"Ich habe tausend Gedanken, tausend Gedanken."
Der Kranich stocherte mit dem Schnabel im Sand und sagte:
"Ich habe nur einen einzigen Gedanken."
Der Fuchs drehte sich im Loch mehrmals herum und dachte:
"Ist der Kranich aber dumm! Er weiß nichts anderes, als im Sand zu stochern, als möchte er in die Erde eine Öffnung stochern und sich dadurch retten."
Der Mann kam in den Wald, um nachzusehen, ob irgendein Tier ins Loch gefallen war. Der Fuchs hörte am Ufer des Loches Schritte und fing an, noch schneller herumzugehen, selbst sagte er immer wieder:
"Ich habe tausend Gedanken, tausend Gedanken." Der Kranich hörte ebenfalls das Geräusch, ließ sich auf die Seite fallen und stellte sich tot.
Der Mann entfernte die Äste und fand den Fuchs und den Kranich im Loch. Der Fuchs lief im Loch herum, der Kranich aber lag auf der Seite und bewegte sich kaum. Der Mann schimpfte: "Ach du, Mörder Fuchs! Er hat meinen teuren Kranich totgebissen!"
Er brachte den Kranich aus dem Loch, legte ihn ans Ufer und wollte dem Fuchs den verdienten Lohn bezahlen. Kaum kam er ins Loch zu dem Fuchs, als der Kranich wegflog und fliegend noch rief:
"Ich hatte einen einzigen Gedanken."
Der Fuchs aber, der tausend Gedanken gehabt hatte, fiel dem Mann zur Beute und von ihm wurde ein warmer Pelzkragen.

78. Tausend Gedanken. E 27276/7 (4) < Kadrina, Tõdva-Kõnnu - Joh. Schneider < Paul Schneider, 13 J. (1897). - AT 105 B* - 2 Varianten.




Viel Geschrei, wenig Wolle

Einmal in alten Zeiten nahm der Wolf ein Schwein fest und meinte ein Schaf bekommen zu haben. Er freute sich schon darauf, daß er nach einer längerer Pause nun wieder leckeres Schaffleisch fressen kann.
Wie groß war aber sein Schreck, als das Schaf plötzlich anfing, schrecklich zu schreien. Dann erst begriff der Wolf seinen Irrtum - daß er anstatt eines Schafes ein Schwein bekommen hatte.
Verachtend sagte der Wolf:
"Was schreist du, wenn dir nicht einmal Wolle auf dem Rücken wächst!"und zerriß das Schwein doch.
Wenn es kein Schaf gibt, ist auch ein Schwein gut.

79. Viel Geschrei, wenig Wolle. H IV 9, 248 (4) < Jüri - Jaan Saalverk < Tiiu Väljataga, Wirtin im Saarte Bauernhof (1901). - Mtº 106 A - die einzige Variante mit Tiergestalten; man knüpft die Geschichte auch mit dem dummen Teufel (AT 1037). In Estland populär als Redensart und Sprichwort - über fünfzig Varianten (EV 8357).




Der Wolf am Viehhof

Die Geschichte vom Wolf war so, daß eine alte Frau einmal auf ihren Sohn aufpaßte, der Sohn weinte laut. Die Mutter sagte dem Sohn, daß dieser mit dem Weinen aufhören soll, sonst würde sie ihn dem Wolf geben.
Der Wolf aber lauschte hinter dem Tor und vernahm, daß der Sohn ihm versprochen wurde. Am nächsten Morgen früh kam er schon.
Also kam der Wolf am Morgen schon frühzeitig. Die Mutter kam mit ihrem Sohn vor die Tür, streichelte dem Sohn den Kopf und sagte: Wenn jetzt der Wolf kommen würde, würde sie diesem mit einem Holzstück auf den Kopf hauen.
Der Wolf dachte traurig: "Ist das Menschengeschlecht aber seltsam, ihre abendliche Rede paßt mit der morgendlichen gar nicht zusammen. Am Abend wird mir ein Kind versprochen, am Morgen droht man mir aber, mit einem Holzstück zu hauen," und so ging er traurig weg.
Dann ging er auf einen anderen Bauernhof und sah dort einen Lahmfuß [Gans] spazieren.
Er fragte:
"Hallo, hallo, Lahmfuß, ist das Großmaul [Hund] zu Hause?"
Der Lahmfuß erwiderte:
"Nein, das Großmaul ging mit dem Hausherrn in den Wald Heu holen."
Dann sagte der Wolf:
"Laß die Rüsselnase [Schwein] herauskommen!"
Darauf sagte der Lahmfuß:
"Dann müssen Sie, Herr, etwas warten, die Rüsselnase stillt jetzt ihre kleinen Ferkelchen."
Der alte Wolf wartete.
Gleich, als der Hausherr und das Großmaul nach Hause kamen, blies der Hausherr aus seiner Pfeife dem Wolf wehtuenden Hagel in die Augen. So bekam dieser weder das Großmaul, noch den Lahmfuß, noch die Rüsselnase und mußte hungrig weggehen.

80. Der Wolf am Viehhof. ERA II 70, 623/5 (17) < Kullamaa, Kolovere, Kalju v., Maidla k. - Alfred Samet < Liisa Saller, 43 J. (1934). - Mt 159 II* Schull + Mtº 106 B - Der Wolf und das alte Weib, 5 Varianten + Der Wolf am Viehhof, 70 Varianten. Die erste Hälfte des Texts ist einmalig. Der zweiten Hälfte begegnet man meistens in der Form eines knappen kontrahierten Märchens, mit metaphorischen Benennungen der Haustiere. In einigen Varianten gibt es die gleichen Formeln wie in dem Volkslied "Begräbnis der Bremse"; in anderen Fällen bildet ein runolied-förmiger Monolog des Wolfes die ganze Geschichte. Dieselben Formeln benutzt man oft in Rätseln über Haustiere.




Eine Schelle der Katze um den Hals

Es gab eine Geschichte über Mäuse, die sich einmal untereinander berieten. Eine Maus war sehr klug, eine kleine Maus, und sie sagte den älteren:
"Wir müssen immer die Katze fürchten, da wir nicht wissen, wann sie gerade kommt. Wir haben immer Angst vor ihr. Laß uns aber der Katze eine Schelle um den Hals binden, dann kann sie uns nicht mehr schrecken. Dann können wir schon von fern hören, wenn sie kommt."
Eine alte Maus sagte, der Rat sei wohl gut, aber wer hat den Mut, ob du den Mut hast, ihr die Schelle umzubinden?
"Nein, ich traue mich nicht."
"Naja, niemand traut sich. Katze bleibt Katze und wir müssen sie immer fürchten."

81. Eine Schelle der Katze um den Hals. RKM II 156, 577 (33) < Tori, Oreküla - Pille Kippar < Liisa Kümmel, 75 J. (1963). - AT 110 - 15 Varianten. Ein populäres Schulbuchtext in Estland seit Willmann (1782).




Trübe das Trinkwasser nicht!

Einmal ging ein junges Lämmchen ans Ufer eines Baches trinken. Das sah ein Wolf und rief ihm zu, selbst schreiend:
"Du, freches Ding, kommst mit deiner schmutzigen Nase und deinen Klauen mein Trinkwasser verwirren und besudeln! Wie meinst du es mit mir, wenn du denkst, daß ich das von dir beschmutzte Wasser trinken muß! Dafür mußt du mit deinem Fleisch und Blut bezahlen!"
"Lieber Herr Wolf!" sagte das Lämmchen erschrocken. "Ich bin doch mehrere Schritte stromabwärts, wie kann ich Ihr Trinkwasser beschmutzen? Haben Sie doch Erbarmen mit mir und töten Sie mich nicht!"
"Halte deinen Mund, du Rattensohn! Außerdem ärgert mich das ganze Schafegeschlecht, seine Hirten und Hunde. Immer, wenn sie Zeit haben, kommen sie mich ärgern. Das alles mußt du mir jetzt ausgleichen!"
"Ich bin doch ohne Schuld und habe nie jemandem etwas Böses getan! Laß mich im Leben!" jammerte das Lämmchen.
"Halte dein Maul, du Schuft! Muß ich hier meine Zeit verschwenden und mit dir streiten? Es ist deine Schuld, daß ich hungrig bin!" brüllte der Wolf und fraß das fromme Lämmchen auf.
Das Lämmchen aber lebte im Bauch des Wolfs weiter. Die ganze Nahrung und alles Getrunkene, was der Wolf verbraucht hatte, ging jetzt weiter in den Magen des Lämmchens.
So wurde der Wolf jeden Tag magerer und schwächer und das Lamm schrie immer im Bauch des Wolfs:
"Nehmt den Räuber fest! Der Zerreißer des Lämmchens kommt!" Wegen dieses Schreiens konnte der Wolf nirgendwo stehenbleiben, sondern ging immer von einer Stelle in die andere.
Einmal wollte der Wolf über einen Zaun springen, zerriß dabei aber seinen Magen; das Lämmchen kam gesund heraus und der Körper des Wolfs blieb am Zaun hängen.

82. Trübe das Trinkwasser nicht! E 4804/5 (3) < Tõstamaa, Pootsi - J. A. Weltmann (1892). - AT 111 A (11 Varianten) + 715. Die Geschichte kennt man durch Druckschriften (Willmann 1782, Grentsius 1812, Körber 1853 jt.). In drei Varianten gibt es eine Kontamination mit Wundermärchen AT 715.




Die Maus als Gastgeberin der Katze

Eine Maus lud eine Katze ein. Die Maus lobte die Katze, daß diese sehr schön sei:
"Augen wie Zwiebeln,
Ohren wie Blätterchen,
Schwanz wie eine Seidenschleife,
Pfoten wie eine Schere,
Nase wie eine Nadelbüchse der Frauen."
Die Katze kam zu Besuch und fraß sieben Jungen der Maus auf. Dann fing die Maus an zu schimpfen:
"Ach du, altes Glotzauge,
Schlappohr, Dünnschwanz,
Krummrücken...
Hast meine sieben Söhne aufgefressen!"

83. Die Maus als Gastgeberin der Katze. ERA II 63, 474 (114) < Urvaste khk. und v. - Richard Viidalepp < Pauliine Jeret, 73 J. (1933). - Mtº 111 B - einmaliger Text. Der Monolog der Maus enthält mehrere dem Runolied charakteristische Gleichnisse.




Das Futter der Wanze, der Maus und des Katers

Einmal gingen die Diener des Teufels - die Wanze, die Ratte und die Katze - zu ihrem Herrn und baten um Nahrung.
Die erste wollte an denjenigen Blut saugen, die neben der Wand schlafen.
Die zweite wollte unter den Getreidekasten Getreidekörner fressen.
Die dritte wollte ihrerseits diejenigen auffressen, die unter dem Getreidekasten Getreidekörner fressen.
Jeder bekam seinen Teil.

84. Das Futter der Wanze, der Maus und des Katers. H II 16, 764 (5) < Risti - J. Weber (1890). - Mtº 111 C - einmaliger Text.




Die Feldmaus besucht die Gutshofsmaus

Einmal waren die Gutsherren am Mittag hinausgegangen, um etwas frische Luft in die Lungen zu atmen. Sie spatzierten zum Bauernvolk. Die Gutshofsmaus sah sich die Sache von der Tür ihres Hauses an und dachte:
"Ich will auch spatzieren gehen. Vielleicht werde ich einen Freund oder einen Bekannten treffen."
Er ging auf ein Gutsfeld. Es kommt ihr die Feldmaus entgegen. Die Gutshofsmaus ruft schon von weitem:
"Hallo, hallo, Feldmaus, junger Herr!"
Die Feldmaus erwidert:
"Hallo, hallo, Fräulein Gutshofsmaus! Wie geht's? Wie lebst du? Wie springt dein Fuß?"
Die Gutshofsmaus sagt:
"Ach, du Plaudertasche!"
Sie redeten von hier und dort. Die Gutshofsmaus fragte die Feldmaus:
"Leben dein Vater und deine Mutter noch? Hast du auch Geschwister?"
Die Feldmaus antwortete:
"Ich habe niemanden mehr. Ich allein bin übriggeblieben," und fragte selbst die Gutshofsmaus:
"Hast du Freunde oder sonst Verwandte?"
Die Gutshofsmaus erwiderte ebenso:
"Ich habe niemanden. Bin ebenso allein."
Jetzt machte sich die Gutshofsmaus auf den Weg nach Hause. Die Feldmaus sagte:
"Komm, wir wollen uns doch mein Haus ansehen."
Die Gutshofsmaus fragte:
"Ist dein Zuhause weit weg?"
Die Feldmaus antwortete:
"Ein paar Sprünge, dann bin ich schon zu Hause."
Sie gingen zusammen. Die Feldmaus zeigte alles, was sie hatte. Dann gingen sie in die Speisekammer, um Mittag zu essen. Sie aßen und aßen. Dann fing die Feldmaus an zu reden:
"Möchtest du nicht meine Lebensgefährtin werden?"
Die Gutshofsmaus lachte:
"Haha, zur Lebensgefährtin!"
Dann sagte sie:
"Ich würde wohl kommen, aber du hast allzu einfache, ländliche Speisen - schimmelige Brotkruste, die die Sklaven des Gutshofes auf die Erde haben fallen lassen, und schimmelige dörnige Gerstenähren."
Die Feldmaus fragte:
"Hast du denn etwas Besseres?"
"Natürlich habe ich Besseres."
Die Feldmaus:
"Um so besser. Diese Plätze gehören uns beiden. Laß uns dorthin gehen, wo es besseres Einkommen gibt."
Die Gutshofsmaus lachte:
"Haha, dann komme ich dir wohl zur Lebensgefährtin, wenn alles so einfach ist."
Sie gingen ins Haus der jungen Mausfrau. Die Mausfrau zeigte alles, was sie hatte. Dann bot sie an:
"Laß uns Abendbrot essen."
Sie gingen in die Speisekammer der Gutsherren. Die Gutshofsmaus fing an zu essen. Die Feldmaus zögerte und sah sich ein und anderes Gefäß an. Das Dienstmädchen ließ eine Katze in die Speisekammer. Die Katze sah zwei Mäuse in der Speisekammer und sprang der Feldmaus nach. Die Gutshofsmaus wußte den Weg zur Tür. Die Feldmaus aber lief von einer Ecke in die andere, die Katze hinterher. Zum Glück kam sie zufällig zur Tür der Gutshofsmaus und war damit von den Nägeln der Katze gerettet. Dann sagte sie mißmütig ihrer Frau:
"Und du hast deine Wohnung noch gelobt! Ich hätte fast meine Haut verloren."
Die Frau sagte:
"Das ist doch kein Wunder. Jeder hat seine Feinde hinterher lauern, man muß vorsichtig sein."

85. Die Feldmaus besucht die Gutshofsmaus. E 47577 (15) < Pärnu - A. Karu (1910). - AT 112 - Die Feldmaus besucht die Stadtmaus. Als gedruckter Text seit Willmann bekannt, in der mündlichen Tradition wenig populär (2 Varianten).




Das Freien des Rattenjungen

Die Rattenmutter sagte ihrem Sohn:
"Sohn, jetzt mußt du heiraten. Ich habe dir schon eine Frau ausgewählt. Eine schöne Frau," lobte die Rattenmutter, "glattes Haar, langer Schwanz, Spitzohren. Du würdest keine bessere finden."
Der Sohn sprang vor Freude in die Luft und rief:
"Mutter, wollen wir denn jetzt meine Hochzeit feiern?"
"Noch nicht," antwortete die Mutter. "Zuerst mußt du auf die Freite gehen, erst dann kommt die Hochzeit."
Der Rattensohn ging auf die Freite. Er fand die von ihrer Mutter ausgewählte Frau auf dem Weg mit einem Käfer spielen. Sie hatte wohl glattes Haar, einen langen Schwanz und Spitzohren, wie die Mutter gesagt hatte, war aber zu faul. Der Rattensohn ging vorbei, ohne über die Freite zu reden. Zum Schluß kam er zu einem großen Stein und sah eine nette Maustochter kommen, eine Gerstenähre im Mund. Der Rattensohn merkte gleich, daß diese eine fleißige Arbeiterin war. Sie fingen an, freundlich zu reden. Die Maustochter lud den Rattensohn zu sich unter den Stein ein. Dort zeigte sie, wie viele Roggen- und Weizenähren sie zum Vorrat gesammelt hatte. Der Rattensohn lobte den Fleiß und die Emsigkeit der Maustochter und fing bald an, über die Freite zu reden. Sie wurden bald einig. Als der Rattensohn zurück nach Hause ging, prahlte er vor der Mutter:
"Jetzt habe ich eine emsige und fleißige Frau gefreit. Die, die du gelobt und ausgewählt hattest, hatte wohl glattes Haar, einen langen Schwanz und Spitzohren, war aber ganz faul, spielte auf dem Weg mit einem Käfer und hatte keine Lust, Ähren zu sammeln. Aber diejenige, die ich auswählte, war sehr fleißig. Hatte sie aber viele Gersten- und Weizenähren zum Vorrat! Außerdem hatte auch sie glattes Haar, einen langen Schwanz und Spitzohren!"
Bald wurde eine prächtige Hochzeit gefeiert. Während der Hochzeit sang die Rattenmutter:
"Uiut-ruiut Hochzeit der Ratte,
die Maustochter bekommt einen Mann,
den jüngeren Rattensohn!"

86. Das Freien des Rattenjungen. E 21873/4 (5) < Pärnu-Jaagupi - J. Reitvelt < Mari Leivelt, 64 J. (1895). - Mtº 112 A - einmaliger Text.




Die Maus als Schneider für die Katze

Es lebten einmal eine Maus und eine Katze. Die Katze wollte neue Kleider bekommen, wußte aber nicht, woher. Sie ging zur Maus und fragte:
"Könntest du mir neue Kleider nähen?"
Die Maus sagte:
"Ich kann, aber ich habe dazu keinen Stoff."
Die Katze strickte der Maus einen Stoff und ging zurück.
Die Maus fragte:
"Was willst du haben?"
Die Katze erwiderte:
"Was kann man daraus machen?"
Die Maus erklärte:
"Daraus kann man eine Hose, eine Mütze und eine Weste nähen." Sie fing an zu nähen.
Die Katze wartete ab, bis es an der Zeit war, daß die Kleidung schon fertig sein mußte, ging dann zu der Maus und fragte:
"Ist schon etwas fertig?"
Die Maus antwortete:
"So viel kann man aus diesem Stoff doch nicht machen. Du kannst daraus nur eine Hose und eine Weste bekommen."
Die Katze wurde böse und sagte:
"Mach denn eine Hose und eine Weste!"
Die Maus sagte:
"Das kann ich machen. Komm in einer Woche und hole die Arbeit ab."
Die Katze kam in einer Woche und die Maus berichtete:
"Man kann daraus sogar so viel nicht machen."
Die Katze fragte:
"Was kannst du denn daraus machen?"
Die Maus erklärte:
"Nur eine Weste."
Die Katze wurde schon ganz wütend und sagte:
"Mach denn eine Weste!"
Die Maus sagte wieder, daß sie in einer Woche zurückkommen soll.
Die Katze kam in einer Woche wieder.
Die Maus sagte:
"Der Stoff ist knapp."
Die Katze fragte, wozu er denn überhaupt reiche. Die Maus meinte - nur zu einem Geldbeutel.
Die Katze wurde noch wütender und sagte:
"Mach denn doch den Beutel!"
Dann ging die Katze den Geldbeutel abholen. Die Maus hatte aber gar keinen Stoff mehr übrig.
Die Katze fragte:
"Ist mein Geldbeutel schon fertig?"
Die Maus erklärte:
"Du hast doch nicht genug Stoff gebracht, woraus hätte ich dir denn den Beutel nähen müssen!"
Die Katze griff die Maus an der Kehle und fraß sie auf. Von der Zeit an fingen die Katzen an, Mäuse zu fressen.

87. Die Maus als Schneider für die Katze. S 77374/6 (18) < Setu, Vilo v., Lõõtina k. - Alma Tammeorg < Vassä Huntsaar, geb. 1890 (1934). - Mtº 113 C - 3 Varianten. Einmaliger handschriftlicher Text.




Der enttäuschte Fuchs

Ein Fuchs lief im Wald herum und suchte sich Nahrung. Er kam zu einer Herde und sah die Hoden eines Schafbocks fast bis zur Erde hängen. Der Fuchs dachte, daß sie dem Schafbock gleich verlorengehen werden. Er lief dem Bock hinterher in der Hoffnung, sich Nahrung zu bekommen.
Die Herde wurde nach Hause getrieben. Der Fuchs sah, daß die Hoden gar nicht herunterfallen und er also leer ausgehen muß. Er sagte:
"Ich will sie doch gar nicht, sind ja sandig!"

88. Der enttäuschte Fuchs. ERA II 126, 485 (5) < Rõuge, Haanja v. - Amanda Raadla < Trumm, peremees, geb. 1865 (1936). - AT 115 - 13 Varianten. Die Geschichte erscheint zum ersten Mal im Druck. In Estland kennt man die aus der Geschichte entsprungene Redensart "Guckt wie der Fuchs auf die Lefze des Pferdes".




Die komische Bärenfahrt

In der alten Zeit ging ein Bauer mit zwei Pferden in den Wald Holz holen. Er ließ ein Pferd mit dem Schlitten etwas weiter weg allein, um für das andere Pferd etwas Holz zu schlagen und aufzuladen.
Im Wald ging aber ein Bär herum und beschäftigte sich mit seinen Sachen. Da fand er einen Pferd mit dem leeren Schlitten. Der Bär hatte sofort Lust, die Rückenadern des Pferdes auszureißen. Er stieg auf den Schlitten, um dem Pferd näher zu kommen und seinen Hunger zu stillen. Zu seinem Unglück aber war der Boden des Schlittens nicht stark genug und seine Pfoten sanken durch die Stangen. Er fing an zu zappeln und seine Pfoten herauszureißen.
Das konnte das Pferd nicht aushalten und stürzte davon. Der Bär hätte nun wohl gern vom Schlitten gesprungen, seine alle vier Pfoten waren aber so tief durch die Stangen des Schlittens gesunken, daß sie bis zu den Knien wund gerieben wurden. Das Pferd aber lief ohne anzuhalten weiter, so daß der Schnee um ihn stürmte, und gab dem Alten keine Zeit auszusteigen.
Der Mann wußte von der Geschichte mit der Bärenfahrt noch nichts. Als er für die erste Ladung genügend Holz gefällt hatte, ging er das zweite Pferd holen, sah aber, daß das Pferd wieder in die Richtung von Zuhause gefahren war. Der Mann beeilte sich und ging ihm hinterher. Er hoffte es noch zu fangen, um zurückzufahren und die zweite Ladung Holz zu fällen.
Zu seinem großen Erstaunen hörte er von Wanderern und entgegenkommenden Leuten, daß ihnen ein alter Herr im schnellen Trab entgegengefahren sei, so daß der Schnee über den Schlitten stürmte. Die Leute wußten, daß der entgegengefahrene Herr einen großen grauhaarigen Pelzmantel gehabt und eine dem Mantel ähnliche schwarze Mütze auf dem Kopf getragen hatte. Selbst hatte er ununterbrochen die Stimme "Ööch! ööch!" von sich gegeben.
Der Mann ging den Spuren nach, bis er zu Hause ankam. Er wollte doch sein gutes Pferd nicht loswerden. Als er aber zu Hause angekommen war, was hatte er dort gefunden?! - Anstatt des alten Herren saß auf dem Schlitten ein halbtoter Bär, der wegen der langen Fahrt stöhnte und keuchte.

89. Die komische Bärenfahrt. H III 30, 345/8 (2) < Halliste - J. P. Sõggel < Mihkel Laur (1901). - AT 116 - Der Bär im Schlitten, 16 Varianten.




Der Bär führt das Pferd über den Graben

Es gab einmal einen sehr naschhaften Bären. Er habe seine Begierde mit Waldtieren nicht mehr befriedigen können, sondern wäre auch zu den Menschen gekommen, um von ihnen unerlaubt zu nehmen.
Einmal waren die Fronarbeiter eines Gutshofes mit Pferden auf einer Heuwiese zur Nachthütung. Sie machten am Waldrand ein Feuer, setzten sich in die Wärme des Feuers und fingen an, alte Geschichten zu erzählen.
Plötzlich hören sie, daß ein Pferd laut schreit, wobei alle anderen Pferde anfangen, zu prusten, und vom Waldrand in die Mitte der Heuwiese laufen.
Die Männer begriffen gleich, daß ein Bär bei den Pferden sein mußte. Jeder nimmt aus dem Feuer große Feuerbrände und läuft in die Mitte der Pferde, wo ein Bär sich tatsächlich ein weißes Pferd in den Schoß genommen hat und angefangen hat, über den Steg eines Graben, der durch die Heuwiese läuft, wegzugehen.
Als der Bär die Fronarbeiter mit beleuchtenden Feuerbränden kommen sah, wurde ihm angst und bange, und er fing schnell an, mit dem Pferd über den Steg zu gehen. Aber so ein Unglück! Beim Tragen der schweren Last stolperte der Fuß des Bären vom Steg und er fiel karpaatsti! über den Hals samt dem Pferd in den Graben, voll und ganz in den Schlamm.
Da hatte der arme Bär aber viel zu tun, bis er seine Nägel, die fast ebenso lang waren wie ein Finger, von dem Körper des Pferdes herausziehen konnte und sich selbst von unter dem schweren Körper des Pferdes retten konnte. Er sprang wie ein dreckiger Eber aus dem Graben und lief in den Wald.
Das arme Pferd aber litt ein halbes Jahr unter seinen Wunden, bevor er wieder gesund wurde.
Als der Bär im Wald angekommen war, rieb der Bär sich an die Hügel, um den Schlamm loszuwerden, er erholte sich ein bißchen von seiner Müdigkeit und fing wieder an, die Nase hoch haltend im Wald weiterzugehen, um für sich einen Leckerbissen zu finden.
So kam er zum Schluß zu einer glatten Kiefer und blieb mit der gespitzten Nase nach oben starren. An der Kiefer war ein Bienenstock, dem aber ein dicker, an den Seil befestigter Baumstumpf zum Schutz gehängt war.
Der Bär fing gleich an, auf die Kiefer hochzuklettern, um etwas zum Beschmieren seiner Lefze zu bekommen.
Er kam bis zu dem Baumstumpf, konnte aber nicht mehr weiter klettern, da der Baumstumpf ihm entgegen stieß.
Der Bär stößt den Baumstumpf weg. Der Baumstumpf geht aber gar nicht auf die Seite, sondern stößt nach jedem Wegschieben dem Bären wieder an den Kopf.
Da überfiel den Bären eine furchtbare Wut, er griff den Baumstumpf aus Leibeskräften an und warf ihn ganz weit weg.
Der Baumstumpf sprang von ihm ein paar Klafter los und schlug dann dem Bären mit vollem Schwung auf den Kopf, worauf der Bär auch gleich vom Baum herunterfiel. Unter dem Baum hatte der Besitzer des Bienenstocks scharfe Pfähle in die Erde gesteckt, auf deren Spitzen der Bär nun fiel und seinen Tod fand. Der Bauer bekam von ihm einen guten Warmen Pelzmantel.

90. Der Bär führt das Pferd über den Graben. E 35703 < Kadrina, Kloodi - Joh. Schneider < Jüri Schneider (1898). - Mtº 117 A + [AT 88*] - Der Bär führt das Pferd über den Graben, 4 Varianten + Der Bär will Honig bekommen, 6 Varianten.




Der Wolf und der Ziegenbock reiten

Ein Bauer hatte ein Pferd, das sein ganzes Leben lang in seinem Dienst gewesen war, jetzt aber alt und schwach geworden war. Es tat dem Mann wohl leid, seinen alten treuen Diener zu töten oder zu erschießen, aber umsonst füttern konnte er es auch nicht. Eines Tages scheuchte er seinen alten Diener in den Wald und dachte, daß das Pferd jetzt versuchen muß, selbst irgendwie auszukommen.
Das Pferd ging einige Zeit weiter, bis er zu einem halben Heuhaufen kam. Dort fing es an zu fressen. Der Ziegenbock war mit ihm von zu Hause mitgekommen, um es zu begleiten. Der Bock kletterte auf den Haufen und hielt dort seine Mahlzeit; er kannte die Stelle schon gut und hatte früherhin dort seinen Hunger gestillt.
Ein Wolf hatte schon früher hinter den Weiden mit neidischen Augen auf den Ziegenbock gelauert, jetzt dachte er aber die richtige Zeit gekommen zu sein, den Ziegenbock in seinen Magen zu stecken, da der Magen schon einige Tage geknurrt hatte. Er lief hoch auf den Haufen und wollte anfangen, mit seinen Zähnen zu arbeiten, aber - warte mal!
"Jedermann mit seinem Gewehr," meinte der Ziegenbock und fing an, den Wolf mit seinen starken Hörnern zu schlagen.
Stark waren die beiden! Der eine wollte mit seinen Zähnen nach der Kehle des anderen greifen, der andere aber gab Schläge, ohne sie zu zählen. Der Wolf hätte seine Eckzähne bald in den Nacken des Ziegenbocks festgebissen, aber zu seinem Unglück stieß er seinen Kopf zwischen die Hörner des Bocks wie zwischen eine Zange fest und nun hatte das Stoßen und das Prügeln kein Ende! Jedermann zog in seine Richtung so stark, wie er konnte. Einen Schluß bereitete diesem Zanken der Zufall, daß die beiden vom Haufen herunter fielen und genau kreuz und quer auf den Rücken des Pferdes. Das Pferd hatte ja genug gefressen, dachte auch, daß ihm nun eine passende Last auf dem Rücken liegt, und fing an, nach Hause zu gehen.
Wie groß mußte das Erstaunen des Bauern sein, als er sein Pferd mit solchen Rittern kommen sah! Jetzt löste er das Pferd von dessen Last und stieß es nicht mehr ab, da es ihm zwei starke Tiere nach Hause gebracht hatte. Dem alten Wolf wurde aber die Haut abgezogen.

91. Der Wolf und der Ziegenbock reiten. H II 24, 151/3 (30) < Helme - P. Einer, Lehrer und J. Einer, stud. < Kadri Einer, Mutter (1887-94). - Mtº 116 B - 6 Varianten.




Der Löwe hat Angst vor dem Pferd

Früher sah das Handeln nicht so aus wie heute. Früher gab es mehr Kaufmänner, die auf dem Lande herumgingen und Lederwaren verkauften. Jeder Kaufmann hatte drei Pferde angespannt, einige sogar vier. Die Wagen waren groß und schwer, es wäre doch schlimm gewesen, wenn sie auf dem langen Weg kaputt gegangen wären. Die Wagen waren mit Waren beladen, die zum Verkaufen gedacht waren. Außerdem gab es Nahrungsmittel und einen Vorrat von Rädern, Stricken und allmöglichem Krimskrams, was man unterwegs gebrauchen konnte. Alles war mit einer Decke zugedeckt.
Die Kaufmänner hatten auch Helfer - Lehrlinge oder Diener - mit, soviel es nötig war. Sie machten lange Reisen und waren manchmal mehrere Jahre unterwegs, bis sie endlich wieder zu Hause ankamen.
So gingen sie auch an uns vorbei, auf dem Wege nach Riga. Jetzt gibt es diesen Weg nicht mehr, nur die Stellen, wo es neben dem Weg einen Graben gab, sind noch spürbar. Sie gingen weiter nach Irboska und noch weiter - manchmal bis Moskau. In jener Zeit gab es aber noch eigenartige Wagen - die Innenseite ihrer Räder war nicht mit Eisen bedeckt.
Das Pferd eines Kaufmanns war schon alt geworden, konnte nicht mehr den Wagen ziehen und wurde müde, bevor sie aus dem Wald heraus konnten.
Der Kaufmann dachte:
"Warum soll ich es noch plagen. Es ist schon alt und hat sich genug Mühe gegeben, jetzt kann es aber nicht mehr ziehen. Ich lasse es lieber frei. Hoffentlich können auch zwei Pferde den Wagen ziehen."
Der Mann ließ das alte Pferd frei in den Wald, damit dieses sich dort selbst Nahrung suchen und allein weiterleben könnte.
So ging dieses Pferd im Wald herum und fraß Gras, da man Gras im Wald sogar im Überfluß finden konnte.
Es kam der Löwe zu dem Pferd und fragte:
"Wer bist du?"
"Ich bin ein großer Muskelprotz," sagte das Pferd.
"Wieso Muskelprotz? Siehe, ich bin doch der stärkste. Alle heißen mich der König der Tiere, wie kannst du stärker sein als ich?" prahlte der Löwe.
Siehst du, in alten Zeiten konnten auch Tiere sprechen.
"Wenn du mir nicht glaubst, laß uns doch unsere Kräfte messen, dann werden wir sehen, wer stärker ist," sagte das Pferd.
Der Löwe traute sich nicht zu und ging nicht, da er dachte, daß der andere tatsächlich stärker sein kann.
"Wenn du nicht den Mut hast, unsere Kräfte zu messen, komm denn zumindest zu diesem Stein, ich will dir meine Kraft zeigen," sagte das Pferd.
Als das Pferd mit seinem hinteren Huf auf den Stein schlug, sprühte dieser Funken, so daß es glänzte.
"Schlage auch du so, daß der Stein Funken sprüht, wenn du stärker bist," sagte das Pferd dem Löwen.
Der Löwe ging zum Stein, zog mit den Nägeln über den Stein krapp-krapp-krapp, so daß der Sand staubte, aber Funken waren nirgendwo zu sehen. So glaubte der Löwe, daß das Pferd stärker war als er und ging traurig weiter.
Es kam ihm ein Wolf entgegen. Der Wolf fragte den Löwen:
"Warum ist unser König so traurig?"
"Ich bin kein König mehr. Einer ist noch stärker als ich und jetzt ist er der König," erzählte der Löwe.
"Von wem sprichst du?" fragte der Wolf.
"Wer ist er? Ich weiß nicht. Ein großes Tier mit vier Füßen, lange Haare auf dem Hals und hinten ein Schwanz, womit es hin und her schlägt."
"Ich kenne das Tier. Das ist doch kein König! Ich habe sogar das Fleisch von solchen Tieren gefressen."
"Halte deinen Mund! Komm mit, wir wollen das überprüfen," sagte der Löwe.
Sie gingen dorthin, wo sich das Pferd befand. Als sie das Pferd erblickten, fragte der Löwe:
"Hast du dessen Fleisch gefressen?"
"Ich kann von hier nicht gut sehen, laß uns näher gehen."
Der Löwe ließ ihn dem Pferd nicht näher gehen, sondern griff den Wolf zwischen seine Pfoten, hob ihn hoch und fragte:
"Kannst du es jetzt sehen?"
"Nein."
Der Löwe hob ihn noch höher und fragte:
"Kannst du ihn jetzt sehen?"
"Nein."
Der Löwe hob den Wolf schon ganz hoch und fragte:
"Kannst du es jetzt endlich mal sehen?"
Der Löwe aber konnte von dem Wolf keinen Laut mehr vernehmen. Der Löwe hatte ihn mit seiner großen Kraft tot gedrückt. Nun ließ er ihn mit einem großen Schlag fallen.
"Siehe!" sagte er. "Ich bin trotzdem wenigstens so stark, daß ich mit diesem Tier sprechen konnte, da dieser hier schon vom bloßen Sehen seinen Geist aufgab."

92. Der Löwe hat Angst vor dem Pferd. ERA II 155, 707/12 (59) < Setu, Järvesuu v. - Nikolai Sõrmus < Grigori Loomik (1937). - AT 118 - 6 Varianten.




Die Wette

Einmal wetteten ein Bär und ein Schwein, wer zuerst die Sonne aufgehen sieht. Sie waren gerade in einem tiefen Wald. Der Bär drehte seinen Kopf in die Richtung der aufgehenden Sonne, das Schwein aber schaute in die andere Richtung.
Der Bär sagte:
"Ein Schwein bleibt doch ein Schwein, er schaut in diese Richtung, von welcher die Sonne nie aufgeht."
Aber was geschah? - Das Schwein sah zwischen den Bäumen die Strahlen der Sonne und sagte dem Bären:
"Die Sonne geht auf."
So hatte das Schwein gewonnen.

93. Die Wette. H IV 2, 635/6 (1) < Tori - Jaan Nuut, põllumees (1888). - AT 120 - Wer zuerst den Sonnenaufgang sieht, 5 Varianten. In einer Variante aus Väike-Maarja ist die Wette zwischen einem Berggeist und einem Flußgeist.




Die Wölfe einander auf dem Rücken

In alten Zeiten galt das von Gott gegebene Gesetz, daß die Wölfe jedes Jahr ein Mensch bekamen. Die Wölfe kannten sogar bestimmte Zeichen, die dieser Mensch trug, der ihnen bestimmt war.
Einmal sammelten sich die Wölfe zu den Nachthütern der Pferde und wollten einen Nachthüter fangen, den sie als für sie bestimmt empfanden. Zum Glück konnte der Mann aber auf einen Baum hochklettern.
Die Wölfe fingen an, einen Stapel zu bauen: ein alter Wolf mit einer kahlen Seite legte sich auf die Erde und die anderen kreuz über ihn. So stieg der Stapel fast bis zu dem Mann. Als der Mann seinen Tod schon vor den Augen sah, fiel ihm noch eine letzte Schlauheit ein und er rief:
"Du, Kahlseite, bist schon früherhin geprügelt worden und wirst es noch einmal!"
Als der untere Wolf mit der kahlen Seite das gehört hatte, sprang er vom Haufen heraus und stürzte davon. Der Stapel fiel herunter und auch andere Wölfe machten, daß sie wegkamen. So hatte der Mann sein Leben gerettet und kam vom Baum herunter.
Danach ist er nie mehr auf den Weg der Wölfe geraten.

94. Die Wölfe einander auf dem Rücken. H III 19, 887/8 (4) < Viljandi < Halliste - Abjak = J. Riiet (1893). - AT 121 - 44 Varianten. Ein in Estland populäres Märchen, das oft mit Geschichten über die Verhältnisse des Mannes und des Wolfs kontaminiert (AT 122, 156 A*, 157, 162*) und die Geschichte abschließt.




Der dumme Wolf

In einem Dorf lebte ein Mann, und der Mann hatte einen Hund. Als dieser jung war, bewachte er das Haus, als er aber alt wurde, konnte er nicht mehr bewachen. Der Mann nahm einen Strick, band ihn um den Hals des Hundes und brachte das Tier in den Wald. Er wollte den Hund an einer Espe erhängen. Plötzlich sah er, daß der Hund Tränen in den Augen hatte. Er ließ den Hund frei und ging selbst nach Hause. Der Hund legte sich auf die Wurzel der Espe schlafen.
In der gleichen Zeit kam zu ihm ein Wolf und sagte:
"Hallo, Gevatter! Ich habe schon lange gewartet, daß du in den Wald kämest. In alten Zeiten jagtest du mich von deinem Haus weg, jetzt werde ich dich fortjagen. Jetzt steckst du in einer Falle, von der du keine Rettung mehr hast. Jetzt mache ich mit dir, was ich nur will!"
Der Hund sagte:
"Was wirst du dadurch gewinnen, wenn du mich auffrißst! Mein Fleisch ist alt und geschmacklos. Bringe mir lieber viel Pferdefleisch. Ich bin jetzt sehr alt und schwach. Wenn ich das Fleisch aufgefressen habe, kannst du mit mir machen, was du willst."
Der Wolf ging das Fleisch holen und brachte ein großes Stück Pferdefleisch. Der Hund fraß das Fleisch auf und sagte:
"Ich bin immer noch schwach. Bringe mir ein Schaf."
Der Wolf ging zum Vieh und brachte dem Hund ein Schaf. Der Hund fraß auch das Schaf auf und sagte:
"Ich bin immer noch schwach. Bringe mir noch ein Wildschwein, dann werde ich zunehmen und du kannst mit mir machen, was du willst."
Der Wolf ging das Schwein holen und brachte nach drei Tagen noch ein Wildschwein. Der Hund fraß auch dessen Fleisch auf und sagte:
"Jetzt kannst du mit mir machen, was du willst."
Der Wolf überfiel den Hund und wollte ihn totbeißen. Der Hund aber leistete ihm Widerstand und biß ihn, so daß der Wolf zu bluten anfing. Der Wolf strampelte, bis er frei kam, und lief in den Wald.
Er ging in den Wald, ließ sich unter einem Busch nieder und fing an, seine Wunden zu lecken.
"Och, du Schelm, du alter verdammter Hund! Du hast mich betrogen," empörte sich der Wolf. "Sobald ich jetzt jemanden finde, werde ich ihn auffressen!"
Der Wolf stand auf und ging sich Nahrung suchen. Er sah auf einem Berg eine Ziege, ging zu ihr und sagte:
"Ziege, Ziege, ich kam dich auffressen!"
Die Ziege erwiderte:
"Es lohnt sich doch nicht, mich aufzufressen. Mein Fleisch ist sehr zäh. Du willst doch nicht deine scharfen Zähne stumpf machen?"
"Einer hat mich schon betrogen, ich kann keinem mehr glauben," sagte der Wolf.
Die Ziege erklärte:
"Geh unter den Berg und öffne dein Maul, dann werde ich dir ins Maul laufen."
Der Wolf machte unter dem Berg den Maul auf, die Ziege lief mit großem Schwung herunter und schlug dem Wolf mit den Hörnern auf den Kopf, so daß ihm im Kopf alles durcheinander ging. Er verlor für drei Stunden sein Gedächtnis. Dann fing er an zu denken.
"Habe ich die Ziege aufgefressen oder nicht. Wenn ich die Ziege verschlungen hätte, sollte ich jetzt satt sein. Ich bin aber hungrig. Daß heißt, ich fraß die Ziege nicht auf. Wenn ich jetzt jemanden fangen kann, werde ich ihn sofort auffressen!" beschloß er.
Der Wolf ging sich im Dorf Nahrung suchen. Im Dorf begegnete er einem Schwein mit Ferkeln.
Der Wolf sagte:
"Ich kam, um deine Ferkel aufzufressen."
Das Schwein gab dafür die Erlaubnis:
"Meinetwegen kannst du sie auffressen. Ich gehe nur noch in den Koben und wasche meine Ferkel vor dem Tod. Geh du auf die andere Seite und warte dort auf mich."
Das Schwein mit seinen Ferkeln und der Wolf gingen zum Damm. Der Wolf ging auf die andere Seite und das Schwein mit seinen Ferkeln blieb auf dem Damm. Das Schwein hob das Tor des Dammes hoch und ließ das Wasser den Wolf überschwemmen. Der Wolf fing an, im Wasser zu zappeln und konnte mit großer Mühe an die Küste gelangen. Das Schwein ging mit seiner Familie ruhig nach Hause und lebte weiter wie früher.
Der Wolf schaute wieder in die Richtung des Dorfes, um herauszufinden, wo er etwas zum Fressen bekommen kann.
Ein Schütze hatte das Aas eines alten Pferdes zur Ecke des Dreschhauses gelassen und ging in der Nacht den Wolf lauern. Der Wolf hatte es gefunden, als er wieder durch das Dorf gekommen war. Am Abend kam er das Aas fressen.
Der Schütze sah den Wolf und erschoß ihn. Hier ist auch das Ende der Geschichte von dem dummen Wolf.

95. Der dumme Wolf. H II 68, 847/50 (15) < Vastseliina - Osvald Jõgeva (1904). - AT 122 F + 122 K* + 122 A - Warte, bis ich Fett ansetze, 5 Varianten + Der Wolf und der Bock, 48 Varianten + Der Wolf und die Sau, 55 Varianten.




Der gute Rat hilft nicht

Ein hungriger Wolf sah auf der Wiese ein Lamm. Mit einem Sprung war er da und hatte das Lamm zwischen den Pfoten.
Das Lamm sah den Wolf mit unschuldigen Augen an und fragte:
"Was willst du mit mir machen?"
"Ich fresse dich auf!" antwortete der Wolf und klapperte mit seinen Zähnen.
"Lieber," bat das Lamm, "wie kannst du mich so auffressen! Du hast ja nicht deine Pfoten gewaschen. Die Menschen waschen vor dem Essen immer ihre Hände. Sie machen deshalb so, weil sie klüger sind als wir."
"Na gut," war der Wolf einverstanden, "ich habe es mit dem Fressen nicht eilig. Bald wirst du sehen, daß auch ich mein Mittagessen mit sauberen Pfoten kosten kann."
Der Wolf ging zum Bach seine Pfoten waschen. Inzwischen aber versteckte sich das Lamm. Der Wolf kam zurück, hatte zwar saubere Pfoten, sein Mittagessen war aber verschwunden.
"Gut," dachte der Wolf, "das nächste Mal werde ich klüger sein!"
Nach einiger Zeit begegnete der Wolf wieder demselben Lamm auf der Wiese. Gleich griff er das Lamm an, stieß es nieder und klapperte mit seinen großen Zähnen.
"Was willst du mit mir machen?" fragte das Lämmchen.
"Ich fresse dich auf," antwortete der Wolf.
"Nein, mein lieber," erklärte das Lämmchen, "so kann man doch nicht Mittag essen. Wasch doch zuerst deine Pfoten und friß dann! Die Menschen machen immer so und sie sind doch klüger als wir!"
"Vielen Dank für den guten Rat," erwiderte der Wolf, "dieses Mal aber mache ich so, daß ich zuerst Mittag esse und dann meine Pfoten waschen werde."
Und genau so tat er.

96. Der gute Rat hilft nicht. RKM I 10, 315 (34) < Tallinn - Joh. Palm (1970). - AT 122 B - 3 Varianten.




Ich gebe dir eine bessere Beute

Ein Mann ging in den Wald. Es kam ihm ein Wolf entgegen.
"Mann, ich werde dich auffressen!"
"Warum solltest du mich auffressen, ich bin noch zu mager! Laß mich doch noch fetter werden!"
"Gut, du bleibst für ein anderes Mal!"
Einige Zeit später ging der Mann wieder in den Wald. Wieder begegnete er dem Wolf:
"Jetzt werde ich dich totbeißen, jetzt hilft nichts mehr!"
"Lieber Waldherr, ich möchte noch weiter leben! Laß mich noch leben! Ich gebe dir lieber eine gute fette Katze."
"Gut, bring mir die fette Katze."
Der Mann ging nach Hause und gab dem Wolf seine alte graue Katze. Er ließ die Katze dem Wolf und ging selbst weg.
"Katze! Ich beiße dich tot!" sagte der Wolf.
"Lieber Wolf, ich möchte noch beten!"
"Gut, bete!"
Die Katze überlegte, auf welchen Baum zu klettern.
"Das bringt dir wohl keinen Nutzen, es ist doch besser, wenn ich dir die Haut gleich abziehe."
"Lieber Freund," sagte die Katze dem Wolf, "ich bin noch mager, aber wir haben viele fette Schafe zu Hause. Ich will sie dir geben. Komm mit mir nach Hause, dann bekommst du einen Leckerbissen!"
Die Katze brachte den Wolf aber nicht in den Stall, sondern ins Dreschhaus, wo der Mann seine drei Hunde hielt. Diese griffen den Wolf gleich an und bissen ihn tot.

97. Ich gebe dir eine bessere Beute. H II 17, 283/4 (9) < Vigala - M. J. Eisen (1888). - AT 122 D - 1t.




Der Ochse und der blinde Wolf

In der alten Zeit ging ein Ochse Schilf fressen. Beim Fressen machte er ein lautes Geräusch. Zufälligerweise ging ein Wolf vorbei und hörte dieses Rascheln. Er fing gleich an zu fragen:
"Wer raschelt im Sumpf,
wer rauscht im Schilf?"
Der Ochse erwiderte:
"Das bin ich, der schwarze Ochse."
Der Wolf fragte wieder:
"Wieviele Ratgeber hast du mit?"
Der Ochse zählte:
"Ich habe neun Ratgeber:
zwei spitze Ohren,
zwei glatte Hörner,
vier Füße zum Gehen,
zum Fünften ein Schwanz zum Schwenken."
Der Wolf verstand, daß der Ochse viele Waffen hatte und ging in den Wald Hilfe suchen. Im Wald fand er noch zwei Wölfe. Sie kamen zu dritt zu dem Rand des Sumpfes.
Der eine Wolf fragte wieder:
"Wer raschelt im Sumpf,
wer rauscht im Schilf?"
Der Ochse erwiderte:
"Das bin ich, der schwarze Ochse."
Die Wölfe fragten:
"Wieviele Ratgeber hast du mit?"
Der Ochse zählte:
"Ich habe neun Ratgeber:
zwei spitze Ohren,
zwei glatte Hörner,
vier Füße zum Gehen,
zum Fünften ein Schwanz zum Schwenken."
Die Wölfe überlegten, daß der Ochse zwar allein ist, Waffen hat er aber doch neun. Die Wölfe hatten keine Waffen. Sie hatten nur den Willen, den Ochsen aufzufressen.
Sie gingen in den Wald, um mehr Helfer zu suchen. Sie fanden im Wald noch drei Wölfe. So gingen sie wieder zu dem Ochsen. Jetzt waren es sechs Wölfe.
Der Ochse fraß aber wie früher im Schilf und die Wölfe konnten gar nicht sehen, wie groß er eben war und was für Ratgeber er hatte. Das Schilf war nämlich sehr hoch.
Die Wölfe fingen wieder an zu fragen:
"Wer raschelt im Sumpf,
wer rauscht im Schilf?"
Der Ochse erwiderte:
"Das bin ich, der schwarze Ochse."
Der eine Wolf fragte wieder:
"Wieviele Ratgeber hast du mit?"
Der Ochse zählte:
"Ich habe neun Ratgeber:
zwei spitze Ohren,
zwei glatte Hörner,
vier Füße zum Gehen,
zum Fünften einen Schwanz zum Schwenken."
Die Wölfe hörten sich das an und drückten nicht mal ihre Augen zu. Wenn der Ochse neun Ratgeber hat, können ihn auch sechs Wölfe nicht zerreißen. Sie gingen wieder in den Wald, um noch Wölfe zu suchen. Nach einer langen Suche fand man noch drei Wölfe, der eine von diesen war blind. So waren es zum Schluß neun.
Jetzt glaubten die Wölfe, wenn der Ochse noch im Schilf wäre und wenn er keine neue Ratgeber hinzu bekommen hätte, könnten sie ihn zerreißen. Sie gingen alle, die Schwänze zwischen den Beinen, zum Schilf. Der Ochse war immer noch am Fressen. Die Wölfe fragten wieder:
"Wer raschelt im Sumpf,
wer rauscht im Schilf?"
Der Ochse erwiderte:
"Das bin ich, der schwarze Ochse."
Die Wölfe fragten:
"Wieviele Ratgeber hast du mit?"
Der Ochse zählte:
"Ich habe neun Ratgeber:
zwei spitze Ohren,
zwei glatte Hörner,
vier Füße zum Gehen,
zum Fünften einen Schwanz zum Schwenken."
Jetzt gingen alle rasch zu dem Ochsen und fingen an, ihn zu zerreißen. Wer griff am Kopf, wer am Schwanz, wo jemand nur konnte. Im Schilf entstand ein lautes Rascheln. Der Ochse kämpfte mit Hörnern und Füßen, bald aber verstand er, daß er, falls es ihm nicht gelingt, nach Hause zu fliehen, samt seinen Ratgebern den Wölfen erliegen muß. Er kam aus dem Schilf hinaus, aber auf der freien Wiese gewannen die Wölfe Übermacht. Die Kraft des Ochsen ging im Kampf gegen neun Feinde zu Ende. Die Wölfe stießen ihn auf die Erde. Der Ochse dachte schon, daß der Schluß seines Lebens nahe sei.
Jetzt erholten sich auch die Wölfe und überlegten, wie es besser wäre, den Ochsen zu fressen. Einer von den Wölfen wußte, daß das gekochte Ochsenfleisch viel besser sei als das rohe. So faßten sie den Entschluß, den Ochsen zu braten. Alle gingen weg, um Holz für ein Feuer zu sammeln, nur der blinde Wolf blieb den Ochsen bewachen. Ihm wurde das Horn des Ochsen ins Maul gegeben. Sie dachten, der Ochse sei totmüde und könne nicht mehr aufstehen. Der Blinde blieb allein bei dem Ochsen, das Horn im Maul, und hielt ihn fest. Alle anderen gingen in den Wald.
Der Ochse sah, daß alle Wölfe weggingen und nur der blinde blieb. Er kam auf den Gedanken wegzufliehen. Er sprach zu dem Wolf:
"Meine eine Seite ist schon sehr steif. Laß mich los, damit ich mich auf die andere Seite drehe, dann gebe ich dir mein anderes Horn ins Maul."
Der Wolf glaubte, daß der Ochse sich tatsächlich auf die andere Seite dreht und ihm das andere Horn ins Maul geben wird. Er erlaubte es, daß der Ochse sich dreht, und ließ das Horn aus dem Maul. Der Ochse sprang auf und stürzte davon, der Wolf aber wartete lange, wann endlich der Ochse sich umdrehen wird. Bald verstand der Wolf, daß der Ochse nicht mehr in der Nähe war. Er fing an, blindlings nach dem Ochsen zu suchen.
Es kamen die übrigen Wölfe aus dem Wald. Wer hatte Birkenrinde, wer Tannenspäne, wer trockene Baumstümpfe, wer Reisig. Es wurde ein riesiger Haufen von Holz, der Ochse war aber nirgendwo mehr zu finden.

98. Der Ochse und der blinde Wolf. RKM II 43, 583/6 (1) < Setu, Pankjavitsa, Lõkova k. - Maria Linna (1955). - AT 122 L* - 24 Varianten. Die estnischen Aufschreibung stammen aus dem Setu-Gebiet. Auch eine Redensart gleichen Themas ist bekannt geworden: Jemand hat Glück wie der blinde Wolf.




Der Fuchs entläuft dem Wolf

Der Wolf fing im Wald einen Fuchs und wollte ihn auffressen. Dann fing der Fuchs an zu bitten:
"Bringe mich auf den Berg und fresse dort!"
Der Wolf war einverstanden und brachte ihn auf den Berg. Dort bat der Fuchs weiter:
"Friß hier noch nicht, das ist kein guter Ort. Bringe mich auf den anderen Berg." Der Wolf brachte. Der Fuchs bat noch weiter:
"Bringe mich auf diesen dritten Berg und friß dort."
Und der Wolf brachte.
Dann sagte der Fuchs:
"Laß mich jetzt zu Gott beten, bevor du mich auffrißt!"
Der Wolf war einverstanden. Der Fuchs hatte aber auf dem dritten Berg seine Höhle und schlüpfte dort hinein. Der Wolf ging leer aus, hatte nichts mehr zu fressen. Vielleicht erfüllt er heute noch die Bitten des Fuchses.

99. Der Fuchs entläuft dem Wolf. ES MT 154, 169 < Leivu - Valter Niilus < Anet Kalej, geb. 1889 (1935). - AT 122 Z.




Der Wolf und die Geißlein

Es war einmal eine Ziege. Sie hatte zwei Geißlein. Sie hatte auch ein Häuschen. Die Ziege ging jeden Tag Schilf fressen und ans Meer trinken. Die Geißlein tranken an der Zitze und wuchsen jeden Tag größer.
"Wenn ich weggehe, dürft ihr niemanden hereinlassen," lehrte die Ziege ihren Geißlein. Die Geißlein waren tagelang allein zu Hause und niemand kam zu ihnen. Die alte Ziege kam am Abend nach Hause. Damit die Geißlein ihre Mutter erkennen könnten, sang sie jedes Mal unter dem Fenster:
"Laßt herein, Kinder, litsu, latsu!
meine Zitzen sind voll, litsu, latsu.
Meine Zitzen sind voll wie Litzenstangen, litsu, latsu.
Mein Euter ist wie ein Bierkännchen, litsu, latsu.
Kinder, laßt herein, litsu, latsu!"
Die beiden Geißlein liefen, um ihrer Mutter die Tür aufzumachen. So war die Mutter wieder bei den Kindern und alle waren froh, daß sie wieder zusammen sein konnten.
Einmal ulkte der Wolf im Wald und kam zufällig zum Haus der Ziege. Es war Abend und die Ziege kam gerade vom Fressen-Trinken und sang unter dem Hausfenster. Nach dem Singen ließen die Geißlein ihre Mutter herein. Der Wolf erfuhr, daß die Ziege kleine Jungen hatte, die jeden Tag allein zu Hause blieben. Er kam auf den Gedanken, sie aufzufressen. Der Wolf fing an, jeden Tag in den Büschen um das Haus zu schleichen, um herauszufinden, wie er ins Haus hinein könnte.
Am Abend kam die Ziege nach Hause und sah viele Wolfsfährten um das Haus. Im Haus sagte die Ziege ihren Jungen:
"Kinder, der Waldwolf ist um das Haus herumgegangen. Laßt ihn nicht ins Haus! Seid ihr sicher, daß ihr die Stimme ihrer Mutter erkennt?" fragte die Ziege.
"Es kann doch nicht sein, daß wir unsere Mutter nicht erkennen," sagten die Geißlein.
"Der Waldwolf hat einen schwarzen Pelz und eine tiefe Stimme," sagte die alte Ziege, "eure Mutter hat aber eine hohe Stimme und einen weißen Pelz," erzählte die Ziege weiter.
"Wir werden schon erkennen, wer ist Mutter und wer Waldwolf."
Die Ziege schlief bis zum Morgen und ging wieder Schilf fressen, am Meer trinken, die Tür ließ sie aber von innen schließen.
Der Wolf hatte schon mehrmals geschaut und gehört, wie die Ziege ihren Jungen abends unter dem Fenster sang. Er lernte das Lied der Ziege auswendig.
Es verging einige Zeit, bis die Ziege wieder wegging. Der Wolf ging sofort unter das Fenster der Ziege singen:
"Laßt herein, Kinder, litsu, latsu!
meine Zitzen sind voll, litsu, latsu.
Meine Zitzen sind voll wie Litzenstangen, litsu, latsu.
Mein Euter ist wie ein Bierkännchen, litsu, latsu.
Kinder, laßt herein, litsu, latsu!"
Die Geißlein hatten gleich verstanden, daß der Wolf am Singen war. Die Worte des Liedes waren zwar wie die der Mutter, aber die Stimme war schrecklich.
Die Geißlein sagten:
"Dich werden wir nicht hereinlassen! Du bist nicht unsere Mama, du bist der Waldwolf. Du hast eine sehr tiefe Stimme."
Der Wolf hörte, daß er an seiner Stimme erkannt worden war, und fing an zu überlegen, wie er eine höhere Stimme bekommen könnte.
"Meine Stimme ist deshalb so tief, weil meine Zunge dick ist," meinte der Wolf. "Wie könnte ich meine Zunge dünner schleifen?"
Die Ziege hatte neben dem Haus einen eisernen Mörser und der Wolf fing an, seine Zunge an den Mörser zu schleifen. Gegen Abend ging der Wolf wieder unter das Fenster der Ziege singen. Das Singen war zwar etwas höher als zum ersten Mal, aber gar nicht so gut wie die Ziege das tat. Die Geißlein erkannten den Wolf und ließen ihn nicht herein.
Später kam die richtige Mutter nach Hause und sang vor dem Hereinlassen:
"Laßt herein, Kinder, litsu, latsu!
meine Zitzen sind voll, litsu, latsu.
Meine Zitzen sind voll wie Litzenstangen, litsu, latsu.
Mein Euter ist wie ein Bierkännchen, litsu, latsu.
Kinder, laßt herein, litsu, latsu!"
"Das ist unsere Mutter, wir wollen sie hereinlassen," sagten die Geißlein und ließen ihre Mutter herein. Sie erzählten der alten Ziege, daß der Wolf unter dem Fenster gesungen hatte und daß sie ihn erkannt hatten, obwohl er nicht ganz seine gewöhnliche Stimme hatte.
"Kinder, der Wolf ist sehr schlau. Sollte er nochmal kommen, dann schaut und hört euch die Stimme aufmerksam an, damit ihr ihn nicht hereinlaßt. Wenn er hereinkommen könnte, würde er euch auffressen," sagte die Ziege ihren Jungen.
"Wir sind vorsichtig, Mama. Wir werden den Wolf nicht hereinlassen," erwiderten die Geißlein.
Es kam der nächste Tag. Die Ziege mußte gehen, um Schilf zu fressen und am Meer zu trinken. Die Geißlein blieben zu Hause und versprachen es, gute Kinder zu sein.
Der Wolf schliff viele Tage seine Zunge am eisernen Mörser. Die Zunge war schon so dünn wie das Blatt eines Baums. Einmal, als die Ziege nicht zu Hause war, kam der Wolf wieder unter das Fenster der Ziege singen. Die Geißlein hörten, daß die Stimme genau so klang wie die der Mutter; sie liefen zur Tür und ließen den Wolf herein.
Och wie die beiden Geißlein erschracken! Der Wolf konnte nur zwei mal verschlingen, dann waren die Geißlein verschwunden. Er schnüffelte noch im Haus, konnte aber nichts finden, was er hätte noch auffressen können. So sah er, daß es außer den zwei Geißlein nichts mehr gab. Er ging hinaus und schlüpfte in den Wald.
Die Ziege kam nach Hause. Sie ging unter das Fenster und sang wieder ihr altes Lied vielmals, aber niemand kam die Tür aufmachen. Dann ging sie zur Tür und sah, daß die Tür gar nicht von innen geschlossen war. Sie ging ins Haus, rief die Geißlein, aber niemand kam. Die Ziege verstand, daß der Wolf durch einen Betrug ins Haus gekommen war und ihre Geißlein aufgefressen hatte. Ihr Herz wollte bersten vor großer Traurigkeit. So weinte sie und machte sich Sorgen wie alle Mutter.
Sie schloß die Tür und ging in den Wald, da sie jemanden zu finden hoffte, dem sie ihre Sorge klagen könnte, um ihr Herz zu erleichtern. Die Ziege ging schon lange im Wald, aber niemand kam. Es scheint, ich muß vor großer Sorge sterben, dachte die Ziege, als sie niemandem begegnete.
Dann kam ihr den Pfad entlang ein alter Mann entgegen.
Der Alte fragte:
"Hallo, Töchterchen! Warum weinst du so sehr?"
"Hallo-hallo, Großväterchen! Wie sollte ich nicht weinen, ich hatte zwei kleine Geißlein. Solange ich selbst im Wald fraß, kam der Wolf durch einen Betrug ins Haus und fraß meine Jungen auf."
"Vergiß das Weinen! Wir wollen herausfinden, welcher Wolf deine Jungen auffraß," sagte der Alte.
Der Alte hatte ein großes Horn mit einem Reimen um den Hals und ein Schwert auf der Seite. Als der Alte das Horn blies, lief plötzlich eine Schar von Wölfen zu dem Alten.
"Wer von euch hat heute Geißlein gefressen, soll es bekennen," befahl der Alte den Wölfen.
"Niemand von uns hat heute Geißlein gefressen," antworteten die Wölfe.
Dann blies der Alte zum zweiten Mal das Horn. Eine andere Schar von Wölfen lief von einer anderen Richtung zu ihm.
"Wer von euch hat heute zwei Geißlein aufgefressen?" fragte der Alte.
"Keiner von uns hat heute Geißleinfleisch bekommen."
"Seid ihr alle hier oder fehlt noch jemand?" fragte der Alte.
"Es ist sonst noch ein Wolf mit einer gebrannten Seite unter uns, aber jetzt scheint er nicht hier zu sein," sagten die anderen Wölfe.
Der Alte schaute um sich herum und sah einen Wolf von den anderen entfernt, hinter einem dicken Baum.
"Du hinter dem Baum, komm heraus zu mir! Gib eine Antwort darauf, was ich frage!"
Der Wolf mit der gebrannten Seite sah sehr vollgefressen und dick aus, mußte aber ungeachtet seines Widerwillens zu dem Alten kommen.
Der Alte fragte:
"Hast du heute die zwei Geißlein dieser Ziege aufgefressen?"
Der Wolf mit der gebrannten Seite antwortete nichts.
Der Alte sagte:
"Man sieht, daß du die Geißlein aufgefressen hast."
Der Wolf mit der gebrannten Seite sagte immer noch kein Wort.
Der Alte tat nichts anderes, als daß er dem Schuldigen mit seinem Schwert plakst! einen Schlag auf den Bauch gab. Der Magen des Wolfs platzte. Der Wolf hatte die Geißlein unverzehrt verschlungen, so kamen sie nun gesund aus dem Bauch heraus. Der böse Wolf wurde getötet, die anderen Wölfe aber, als sie dieses schreckliches Gericht gesehen hatten, liefen voll Angst in den Wald.
Die Ziege war sehr froh, daß sie ihre Geißlein zurückbekam. Der Alte, der Waldkönig, bekam von der Ziege ein so herzliches Dankeschön, welches er noch nie früher bekommen hatte.

100. Der Wolf und die Geißlein. RKM II 59, 504/11 (2) < Setu, Pankjavitsa, Lõkova k. - Maria Linna (1956). - AT 123 - 51 Varianten. Ein bei vielen Völkern bekanntes Märchen, das sich auch in der Form von Übersetzungen der Verarbeitung "Der Wolf und sieben Geißlein" von den Brüdern Grimm verbreitet hat. In Estland gibt es 7 direkt von den Grimms beeinflußten Varianten und zehn bruchstückhafte und improvisierte Aufschreibungen. Das Setu-Gebiet hat seine eigene Fassung mit zwei Geißlein (34 Varianten), zu deren Ende der Himmelsvater den Wolf zwingt, aufs Dach zu springen, oder schlägt er ihn mit seinem Stab und bekommt die Geißlein zurück. Anderswo in Estland finden wir auch Motive, die bei mehreren anderen Völkern bekannt sind, z.B. daß dem Wolf der Bauch entzweigeschnitten wird und anstatt der Geißlein Steine in den Bauch gelegt werden (vgl. "Rotkäppchen").




Die Ziege mit drei Bäuchen

Auf einer Mähwiese waren drei Heuhaufen. Bei einem Haufen war eine Ziege mit einem Bauch, beim zweiten Haufen war eine Ziege mit zwei Bäuchen und beim dritten eine Ziege mit drei Bäuchen.
Der Wolf ging zu der Ziege mit einem Bauch und fragte:
"Warum zittert deine Wolle?"
Die Ziege antwortete:
"Ich fürchte dich."
"Warum bebt dein Schwanz?"
"Ich fürchte dich."
"Warum hast du einen flüchtigen Blick?"
"Ich fürchte dich."
Der Wolf griff die Ziege an und fraß sie auf.
Dann ging er zu der Ziege mit zwei Bäuchen und fragte wieder:
"Warum zittert deine Wolle?"
Die Ziege antwortete:
"Ich fürchte dich."
"Warum bebt dein Schwanz?"
"Ich fürchte dich."
"Warum hast du einen flüchtigen Blick?"
"Ich fürchte dich," antwortete die Ziege mit zwei Bäuchen wieder. Der Wolf griff auch diese Ziege an und fraß sie auf.
Dann ging der Wolf zu der Ziege mit drei Bäuchen und fragte wieder:
"Warum zittert deine Wolle?"
Aber diese Ziege antwortete:
"Weil ich dich angreifen will!"
"Warum bebt dein Schwanz?" fragte der Wolf wieder.
Die Ziege aber antwortete wieder, daß sie den Wolf angreifen will.
"Warum hast du einen flüchtigen Blick?"
Die Ziege antwortete wieder, daß sie angreifen will.
Die Ziege hatte ihre Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als sie tatsächlich den Wolf angriff und seinen Bauch entzwei riß. So konnten auch die anderen zwei wieder aus dem Bauch hinaus.
Die Ziegen gingen wieder jede zu ihrem Heuhaufen und fingen an, weiterzuleben und zu fressen.

101. Die Ziege mit drei Bäuchen. S 35897/9 (2) < Setu, Vilo v., Molnika k. - Viktor Ruusamägi < Maria Kõrgeperv (1932). - Mtº 123 C - Drei Ziegen am Heuschober, 2 Varianten.




Erschrockene Wölfe

Es gingen einmal eine Ziege und ein Schafbock, Hobelspäne auf dem Rücken. Sie trafen einen Wolf. Dieser fragte:
"Was habt ihr auf dem Rücken?"
Die Ziege antwortete:
"Das sind die Knochen eines Wolfs."
Der Wolf fing an zu bitten:
"Freßt mich nicht auf!"
Der Schafbock und die Ziege versprachen es, nicht zu fressen. Aber sie selbst, der Schafbock und die Ziege fürchteten selbst, daß der Wolf sie auffressen könnte, deshalb jagten sie dem Wolf durch ihre Schlauheit die Angst ein.
Sie gingen weiter und begegneten einen anderen Wolf. Dieser fragte wieder:
"Was habt ihr dort im Sack?"
"Die Knochen eines Wolfs," antworteten der Schafbock und die Ziege.
Dieser Wolf war auch erschrocken:
"Freßt mich nicht auf!" bat er.
"Gut, wir fressen dich nicht," sagten der Schafbock und die Ziege, selbst aber hatten sie Angst, daß der Wolf vielleicht sie selbst auffressen wird.
Dann kamen alle Wölfe im Wald zusammen. Diese zwei Wölfe erzählten den anderen, wie der Schafbock und die Ziege sie auffressen wollten. Die anderen Wölfe fingen an zu lachen, daß sie so dumm gefürchtet hatten.
"Laß uns gehen und sie selbst auffressen," beschlossen die Wölfe, deren Anzahl schon über hundert gestiegen war, und gingen.
Der Schafbock und die Ziege sahen die große Schar der Wölfe kommen und flüchteten an eine Fichte. Die Wölfe warteten unter der Fichte in der Hoffnung, daß sie herunterfallen. Zum Schluß passierte es, daß der Schafbock sich nicht mehr festhalten konnte und herunter zu den Wölfen fiel. Die Ziege schrie mit lauter Stimme von oben:
"Schafbock, nimm den Wolf fest!"
Die Wölfe bekamen Angst und liefen in den Wald. Die Ziege kam vom Baum herunter und sie gingen ihren Weg weiter.
So retteten sie sich mit Schlauheit vor den Wölfen.

102. Erschrockene Wölfe. ERA II 175, 565/6 (3) < Setu, Vilo v., Truba k. - Jaan Ilvik < Aleksandra Ilvik, geb. 1891 Petseri v. - von Mutter (1938). - AT 126 A* + 125 - Erschrockene Wölfe, 10 Varianten + Die Knochen des Wolfes, 4 Varianten. Die kontaminierte Variante wird nur in Setu-Gebiet erzählt.




Die Hütte des Ochsen

Es lebte eine alte Frau mit ihrem Mann und sie hatten keine Kinder. Vom Vieh hatten sie auch nur ein Hennchen, ein Schweinchen, ein Schafböckchen und einen Ochsen. Sie lebten in einem dicken Wald.
An einem Abend kam ein Wolf zum Fenster der Alten und sang:
"Hausmann und Hausfrau, suutska-nuutska!
Gebt, was ihr zu geben habt!
Versprecht, was ihr zu versprechen habt!"
Die Frau und der Mann berieten untereinander, was sie ihm geben sollten. Zum Schluß dachten sie, daß die Henne am billigsten ist, also geben sie die Henne. Der Hahn hatte diese Entscheidung zufällig gehört und flüchtete zusammen mit der Henne in den Wald. Die Alten weinten und waren besorgt, aber sie konnten nichts ändern.
Es kam der nächste Morgen. Wieder kam der Wolf vor das Fenster und sang.
"Hausmann und Hausfrau, suutska-nuutska!
Gebt, was ihr zu geben habt!
Versprecht, was ihr zu versprechen habt!"
Die Alten berieten nochmals, was sie geben sollten. Sie faßten den Entschluß, den Schafbock wegzugeben. Das Schafböckchen hatte das aber vernommen und flüchtete auch in den Wald. Die Alten gingen in den Stall, der Schafbock war aber nicht mehr da. Sie weinten und machten sich Sorgen, aber der Schafbock war verschwunden.
Na gut, es kam der dritte Tag und der Wolf kam wieder vor das Fenster und sang:
"Hausmann und Hausfrau, suutska-nuutska!
Gebt, was ihr zu geben habt!
Versprecht, was ihr zu versprechen habt!"
Die Alten dachten wieder, was sie geben sollten. Es bleibt nichts anderes übrig, als das Schwein wegzugeben. Als das Schweinchen das hörte, flüchtete auch es in den Wald wie die anderen. Die Alten gingen in den Stall zu dem Schwein - das Schwein aber war nirgendwo zu finden. Die Alten weinten und machten sich Sorgen, aber nichts half. Was ist weg, ist weg.
Es kam der vierte Tag, der Wolf kam wieder und sang:
"Hausmann und Hausfrau, suutska-nuutska!
Gebt, was ihr zu geben habt!
Versprecht, was ihr zu versprechen habt!"
Die Alten dachten wieder, was sie geben sollten. Dann sagten sie: "Wir müssen den Ochsen weggeben. Wir haben keine Tiere mehr."
Sie gingen in den Stall, aber der Ochse war verschwunden, hatte geflüchtet. Die Frau und der Mann weinten und waren wieder besorgt, wie es weitergehen sollte.
Der Ochse, das Schwein, der Schafbock und die Henne trafen sich alle im Wald. Der Ochse sagte zu dem Schwein:
"Schwein, Bruder, komm, wir wollen ein Haus bauen. Wenn es kälter wird, wirst du erfrieren."
Das Schwein sagte, er komme nicht:
"Ich pupse unter einem Busch, ich pupse unter dem anderen Busch, so habe ich es warm genug."
Na gut, das Schwein kam nicht. Der Ochse fragte den Schafbock:
"Schafbock, Bruder, komm, wir wollen ein Haus bauen, sonst wirst du erfrieren."
Der Schafbock erwiderte:
"Ich komme nicht, ich habe ohnehin einen dicken wollenen Pelz an, mach für dich selbst ein Haus, wenn du willst."
Der Ochse fragte die Henne:
"Henne, Töchterchen, komm, hilf mir ein Haus bauen. Es kommt der Frost, du wirst erfrieren."
Die Henne antwortete:
"Mach du, wenn es dir kalt ist. Ich gackere am Ast eines Baumes, dann gehe ich und gackere am Ast eines anderen Baums, mir wird es warm genug sein."
So ging der Ochse allein ein Haus bauen. Er baute, bis das Haus fertig war, und zog ein.
Es vergingen einige Tage und das Wetter wurde kälter. Manchmal schneite es.
Als der Morgen kam, kam die Henne zu dem Ochsen und bat:
"Bruder Ochse, laß mich ins Haus! Es ist mir kalt. Ich bin am Erfrieren!"
"Ach! Hast du mir beim Bauen geholfen?"
"Wenn du mich nicht ins Haus hereinläßt, werde ich die Erde von deinem Dachboden wegscharren!" drohte die Henne.
Der Ochse dachte, bei dieser Verrückten hilft nichts, und ließ die Henne ins Haus.
Es kam der nächste Tag, schon kam der Schafbock zum Fenster des Ochsen und bat:
"Lieber Bruder Ochse! Tu mir einen Gefallen und laß mich bei dir wohnen."
"Ach! Wo warst du dann, als ich das Haus baute? Dann prahltest du, daß du schon ohnehin einen wollenen Pelz anhast."
Der Schafbock drohte dem Ochsen, daß er alle Fenster des Hauses kaputt schlagen wird, wenn der Ochse ihn nicht ins Haus läßt.
"Du Verrückter," murmelte der Ochse und ließ den Schafbock ins Haus.
Sie lebten wieder einen Tag, schon kam das Schwein zum Fenster und forderte:
"Lieber Bruder Ochse, nimm mich zu dir, es ist mir kalt!"
"Ach! Wo warst du dann, als ich mit dir das Haus bauen wollte? Du sagtest, du pupst unter einem und dem anderen Busch und hast es warm genug!"
Das Schwein drohte auch den Ochsen, daß er die Steine unter den Hausecken wegschnüffeln wird, wenn der Ochse es nicht ins Haus läßt.
"Du Tollkopf," dachte der Ochse und ließ das Schwein hereinkommen. Sie lebten einige Zeit zusammen, dann aber erfuhren die Wölfe, wer im Haus des Ochsen wohnt. Sie dachten den Ochsen, das Schwein, den Schafbock und die Henne aufzufressen. Sie versammelten sich in eine große Schar und gingen zum Fenster des Ochsen. Die anderen Wölfe sagten einem kleinen blinden Wolf, daß dieser zuerst hineingehen soll. Dieser gehorchte und steckte seinen Kopf durch das Fenster ins Haus.
Der Ochse sprang auf, schlug mit den Hörnern. Der Schafbock lief mit seinen Hörnern von hinten zu und das Schwein stieß mit seinen Eckzähnen. Die Henne sagte noch hinter den anderen:
"Wartet, bis ich noch, ich noch komme!"
Die Wölfe waren sehr erschrocken und flüchteten in den Sumpf.
Von dem Tag an kam kein Wolf mehr zum Haus des Ochsen.
Der Ochse, das Schwein, der Schafbock und die Henne wohnten bis zum Ende ihres Lebens in diesem Haus und niemand hatte den Mut, sich ihnen zu nähern.

103. Die Hütte des Ochsen. S 21669/80 (5) < Setu, Vilo v., Alaotsa k. - Mihhail Pihlapuu < Anna Luikpere < von Großmutter (1930). - AT 163 + 130 A - Das Singen des Wolfes, 11 Varianten + Die Hütte des Ochsen, 35 Varianten. Das Märchen ist östlich verbreitet. Die estnischen Aufschreibungen stammen meistens aus Setu und Leivu. Die beiden Typen der jetzigen Kontamination hängen sich gern an andere in Setu bekannten Märchen wie AT 20 C, 43, 126 an.




Die vier alten Haustiere

Ein Bauer hatte ein Pferd, das ihn schon fünfundzwanzig Jahre mit Fleiß und Eifer gedient hatte. Jetzt aber war es schon alt und verletzt, konnte weder den Pflug noch den Wagen ziehen. Deshalb trieb der Bauer es aus dem Tor hinaus und sagte:
"Geh und suche dir einen neuen Herrn, ich kann dich nicht mehr gebrauchen."
Ein anderer Bauer hatte einen Hund, der ihn viele Jahre treu gedient hatte, jetzt aber war er alt und konnte nicht mehr bellen. Auch er wurde aus dem Tor hinaus getrieben und ihm wurde gesagt, daß er nie wieder kommen soll.
Ähnlich geschah es einem Hahn und einer Katze. Sie hatte das ganze Leben lang auf einem Bauernhof gelebt und ihre Pflicht sorgfältig erfüllt, jetzt wenn sie alt waren, wurden sie aber weggetrieben und waren niemandem mehr nötig.
Alle Tiere trafen sich auf dem Acker des Dorfes. Als jeder seine Geschichte erzählt hatte, berieten sie, was sie weiter tun sollten.
"Wir gehen nach Deutschland und werden als Sänger arbeiten," schlug der Hahn vor.
"Ach, was!" war das Pferd mit dem Plan nicht einig. "Es ist doch besser, in diesem Land zu bleiben. Wir wollen weitergehen, vielleicht finden wir irgendwo besonders gutes Gras wachsen."
Alle waren einverstanden und so ging man weiter.
Am Abend kamen sie zu einem großen Haus mit ganz hohen Fenstern. Das Haus war hell beleuchtet. Der Hahn, der Hund und die Katze, die unterwegs nichts zu fressen bekommen hatten, wollten sehr gern wissen, was für Menschen in diesem Haus wohnen. Da sie durch das hohe Fenster sonst nicht hineinschauen konnten, beschlossen sie, daß das Pferd auf den Holzhaufen tritt, der unter dem Fenster lag, dann steigt der Hund auf den Rücken des Pferdes, die Katze ihrerseits auf den Rücken des Hundes und der Hahn wiederum auf den Rücken der Katze. Der Hahn hätte dann erzählen müssen, was er im Haus gesehen hatte.
Als der Hahn gerade seinen Hals streckte, fiel der Holzhaufen um und schlug mit einem solchen Schwung an die Wand, daß die Fenster herunterfielen. Danach hörte man im Haus ein lautes Getrampel, als wären dort viele Menschen gelaufen, dann blieb alles still.
Die Tiere warteten noch eine Weile vor der Tür, als vom Haus aber nichts mehr zu hören war, gingen sie in das Haus hinein. Sie fanden einen Eßtisch inmitten des Zimmers, bedeckt mit allmöglichen guten Speisen, nur nimm und iß.
Als der Hahn, die Katze und der Hund ihren Hunger gestillt hatten, berieten sie, was zunächst zu tun war.
"Wie man sehen kann," sagte der Hund, "ist dieses Haus wie gerade für uns leer gemacht worden, sonst wäre das Volk dieses Hauses doch nicht weggegangen. Wir sind alle alt und kennen den Haushalt gut, es ist doch wunderbar, daß wir hier selbst Hausherren sein können. Wir wollen jetzt alle unsere alten Plätze einnehmen, vielleicht werden wir morgen im Tageslicht auf einen noch klügeren Gedanken kommen."
Der Rat des Hundes wurde von allen für richtig gehalten und jeder ging sich einen passenden Platz suchen. Die Katze sprang ins Bett, um dort zu schlafen, der Hund legte sich vor die Tür, das Pferd ging in den Stall, wo er schmackhaftes Kleeheu vorfand, der Hahn flog auf die Lattendecke.
Die bisherige Einwohner des Hauses waren Räuber, die einen großen Reichtum in dieses Haus zusammengetragen hatten. Da plötzlich ein starker Schlag im Haus zu hören war, erschracken die Männer sehr, sie dachten vielleicht, daß jemand kam, um sie festzunehmen, deshalb liefen sie in den Wald, um sich zu verstecken. Nun saßen sie zusammen und überlegten, was sie tun sollten.
"Es ist sicher," sagte der eine, "daß man kam, um uns festzunehmen. Es wäre gut, wenn wir erfahren könnten, ob sie Fallen haben und ob sie zuerst dort bleiben wollen. Einer von uns muß zurückgehen, um das festzustellen."
Man hielt diesen Rat für klug und ein mutiger Mann wurde zum Haus geschickt. Vorsichtig kroch dieser näher und ging von der hinteren Seite die Wand entlang auf die Lattendecke. Als er dort gehorchte, fühlte er plötzlich, daß ein Tier ihm auf den Kopf sprang, seine scharfe Nägel ihm ins Gesicht feststeckte und von beiden Seiten gleichzeitig angriff. Schreiend sprang er herunter in den Stall. Aber auch hier war nichts besseres zu erwarten, da ihm von einer Ecke schreckliche Schläge zukamen. Mit großer Mühe konnte er durch die Tür ins Zimmer gelangen, er konnte sich aber nicht einmal umdrehen, als er fühlte, daß etwas Grobes und Scharfes sein Gesicht kratzte, so daß sein Gesicht und seine Hände schlimm verletzt wurden. Er brauchte nur einen Augenblick, um aus der Tür hinauszuschlüpfen. Aber auch hier hatte er keine Ruhe, da etwas seinen Unterschenkel wie mit einer Zange so stark drückte, daß er vor Schmerz schreiend in den Wald lief so schnell, wie er konnte.
"Es ist uns nicht mehr möglich, ins Haus zurückzugehen!" klagte er. "Wären dort Menschen, käme es noch in Frage, aber dort sind lauter Teufel."
Dann erzählte er von seinem Unglück und zeigte seine Wunden.
"Wenn es so schlimm ist, kann man natürlich nicht mehr zurückgehen," sagte ihr Häuptling. "Wir müssen unsere Sachen zusammensammeln und uns einen neuen Wohnort suchen."
So machten sie auch, sie gingen weit weg von der alten Stelle. Das Pferd, der Hund, die Katze und der Hahn aber lebten in diesem Haus ruhig bis zum Ende ihres Lebens.

104. Die vier alten Haustiere. H II 14, 463/9 (1) < Viljandi, Uusna v. - Hermann Nigul (1893). - AT 130 B - Die Tiere fliehen vor dem drohenden Tod, 46 Varianten.




Der gemeinsame Hüttenbau

Früh am Morgen, als draußen schon schlechtes herbstliches Wetter war, traf ein Fuchs einen wilden Ochsen.
"Was denkst du, Freund?" fragte der Fuchs, "Du siehst so traurig aus und hast den Kopf voll von Gedanken; ist dir ein Unglück passiert?"
Der Ochse schüttelte den Kopf:
"Es ist nichts Schlimmes passiert, nur es kommt jetzt schlechtes Wetter und ich wollte meine Freunde darum bitten, daß sie mir Unterkunft gäben."
Der Fuchs aber sagte:
"Warum willst du die anderen bitten, wenn du dir selbst helfen kannst! Baue dir selbst ein Haus, wo du wohnen kannst, wenn das Wetter schlecht wird. Dann brauchst du nicht mehr deinen Pelz zu benetzen und andere zu bitten."
Dem Ochsen gefiel diese Rede und sie fingen an, ein Haus zu bauen.
"Bringe du Holz und Reisig," sagte der Fuchs dem Ochsen, " du bist stärker. Ich werde so lange das Loch für das Fundament graben." Der Ochse war damit sehr zufrieden und bald hatte er alles Nötige zusammengetragen. Die beiden arbeiteten eifrig und die Wände des Hauses wurden schnell höher. Als der Ochse mit der letzten Last von Tannenzweigen für das Hausdach kam, fand er den Fuchs nirgendwo mehr. Er fand auch keine Tür, um hineinzugehen.
"Gevatter, wo bist du?" rief er, "ich kann weder dich noch die Tür finden, wodurch ich ins Haus gehen könnte."
"Ich bin schon hier, im Haus," sagte der Fuchs, "hier an der Ecke ist auch die Tür, schaue nach unten, dann wirst du schon die Tür finden."
Der Ochse schaute auf die Erde und sah an der Ecke ein kleines Loch, wodurch der Fuchs seinen Kopf hinaussteckte.
"Was ist das," fragte der Ochse, "das ist doch keine Tür?"
"Jaa, das ist eine Tür," sagte der Fuchs.
"Diese Tür ist doch so klein, ich kann gar nicht durch," sagte der Ochse.
"Das ist auch nicht nötig," sagte der Fuchs, "die Hauptsache ist, daß ich hereinkommen kann. Ich danke dir sehr für deine Hilfe, daß du mir das Haus bauen halfst."
Als er das gesagt hatte, zog er seinen Kopf wieder ins Haus.
Der wilde Ochse mußte traurig weitergehen und anderswo Unterkunft suchen. Er hatte keine Zeit mehr, um ein neues Haus zu bauen, da es angefangen hatte zu regnen.
So ist die Schlauheit manchmal mehr wert als die große Kraft.

105. Der gemeinsame Hüttenbau. H III 15, 299/301 (1) < Rõngu - Peter Eichwalt < von einem alten Soldat (1891). - Mtº 130 E 1) - die einzige Variante. Die Geschichte ist wahrscheinlich nach dem Vorbild des setukiesischen Märchens AT 130 A entstanden, wie auch der Aufschreiber der Geschichte in seinem beigefügten Brief behauptet.




Die Ziege prahlt

Einmal trank eine Ziege sich voll und war plötzlich ganz mutig und sagte:
"Jetzt kann mir meinetwegen auch ein Wolf entgegen kommen!"
Ein Wolf kam gerade aus den Büschen und sagte:
"Komm denn doch zu mir!"
Die Ziege war wieder feige:
"Ach, du sollst doch nicht die Aufmerksamkeit darauf lenken, was ein betrunkener Kopf alles erzählt."

106. Die Ziege prahlt. ERA II 188, 238 (15) < Lääne-Nigula, Palivere - Enda Ennist < Liisa Alliksoo, geb. 1886 (1938). - AT 132 - 2 Varianten.




Der Fuchs fordert Essen, Trinken und Lachen

Eine Katze hatte ihre Herrin geärgert, weil sie das Sahnefaß heruntergeschoben und leergefressen hatte. Die Hausfrau strafte sie streng. Die Katze dachte:
"Ich muß weggehen, um meine Sünden zu büßen."
Sie ging weg; bald kam ihr ein Hase entgegen.
Der Hase fragte:
"Wohin des Weges, Kätzlein?"
Die Katze sagte:
"Ich gehe meine Sünden büßen."
"Welche Sünden hast du denn begangen?"
Die Katze antwortete:
"Ich machte das Sahnefaß meiner Herrin kaputt."
Der Hase gestand:
"Ich bin auch sündig, ich fraß den jungen Hafer eines Bauern auf."
So gingen sie zu zweit weiter.
Dann kam ihnen ein Fuchs entgegen. Der Fuchs fragte, was sie vor hätten.
Sie sagten:
"Wir gehen unsere Sünden büßen."
Der Fuchs fragte über die Sünden.
Die Katze gestand, daß sie das Sahnefaß der Hausfrau heruntergeschoben hatte. Der Hase sagte, daß er den jungen Hafer aufgefressen hatte.
Der Fuchs sagte:
"Ich bin auch sündig, ich biß die Gans eines Bauern tot. Ich will mitkommen, um meine Sünde zu büßen."
Sie gingen zusammen weiter. Sie trafen einen Wolf.
Der Wolf fragte:
"Wohin führt euer Weg?"
Sie antworteten:
"Wir wollen unsere Sünden büßen."
Er fragte:
"Welche Sünden habt ihr?"
Die Katze sagte wieder, daß sie das Sahnefaß heruntergeschoben hatte. Der Hase sagte, daß er den Hafer gefressen hatte; der Fuchs gestand, daß er die Gänse eines Bauern aufgefressen hatte.
Der Wolf sagte:
"Ich bin auch sündig, ich zerriß das Fohlen eines Bauern. Wir wollen alle zusammen unsere Sünden büßen."
Es kam ihnen ein alter Bär entgegen. Dieser fragte wieder:
"Wohin führt euer Weg?"
Alle erklärten, was sie gemacht hatten. Die Katze sagte:
"Ich schob das Sahnefaß der Hausfrau herunter."
Der Hase sagte:
"Ich fraß den jungen Hafer eines Bauern."
Der Wolf klagte:
"Ich biß das Pfohlen eines Bauern tot."
Der Bär gestand:
"Ich bin auch sündig, ich fraß die Bienen auf. Laß uns alle zusammen gehen."
Sie gingen den Weg entlang, bis sie zu einem Loch kamen. Über das Loch lag ein Pfahl. Die Gesellschaft fing an, Pläne zu schmieden: derjenige, der auf dem Pfahl über das Loch kommt, hat seine Sünde gebüßt, dem wird vergeben.
Die Katze versuchte es zuerst. Es gelang ihr ganz leicht, ihre Sünden wurden sofort vergeben.
Es kam der Hase. Er war schon auf dem halben Weg, dann fiel er hinein. Der Wolf konnte den Pfahl nur mit seinen Pfoten berühren, als er schon hineinfiel, also konnte er nur sehr kurz gehen.
Der alte Bär ging. Er hätte sich zwar mit den Nägeln festhalten können, aber ihm zerbrach der Pfahl und er fiel mit dem ganzen Pfahl hinein.
Sie saßen einige Tage da, ohne daß sie etwas zum Fressen bekommen hätten. Sie wurden schon hungrig. Wie könnte man Nahrung bekommen? Sie fingen an, zusammen zu singen. Wessen Stimme am hellsten klingt, der wird aufgefressen. Der Hase hatte eine hohe Stimme, er wurde zuerst aufgefressen.
Sie wurden wieder hungrig und fingen wieder an zu singen. Der Fuchs war schlau, er gab selbst keinen Laut von sich, munterte nur die anderen zum Singen auf. Der Wolf hatte eine höhere Stimme und wurde aufgefressen.
Sie warteten weiter, bis sie wieder hungrig wurden. Der Fuchs war schlau gewesen. Er hatte Stücke von Därmen der anderen unter seinen Hintern gesammelt und fraß nun, was er hatte.
Der alte Bär:
"Du, Fuchs, was frißt du dort?"
Dieser antwortete:
"Ich nehme aus meinem Hintern und stecke mir in den Mund. Du kannst das auch."
Der alte Bär fing an, seine Därme zu suchen. Er zog seine Därme hinaus und fraß. Bald darauf starb er. Jetzt war der Fuchs allein im Loch. Am Anfang gab es Fleisch genug, später aber wurde er wieder hungrig.
Am Rand des Lochs hatte ein Vogel sein Nest. Es waren schon kleine Jungen im Nest. Der Fuchs sagte zu dem Vogel:
"Wenn du mich nicht aus dem Loch heraushilfst, werde ich deine ganze Verwandtschaft umbringen."
Der Vogel sagte:
"Was kann ich für dich tun?"
"Trage Reisig und Zweige unter meine Füße!"
Der Vogel trug, bis der Fuchs aus dem Loch hinausspringen konnte. Der Fuchs kam hinaus und sagte dem Vogel:
"Ich bin hungrig. Wenn du mir nicht etwas zu fressen gibst, nehme ich dein Nest herunter und bringe deine Jungen um."
Der Vogel war besorgt:
"Wie werde ich dir Nahrung bringen?"
Der Fuchs erklärte:
"Dort geht eine Frau zur Kindtaufe. Sie hat eine Schüssel mit dem Eierbrei in der Hand. Fliege ihr um den Kopf."
Der Vogel ging und flog der Frau um den Kopf. Die Frau stellte die Schüssel auf die Erde, um eine Rute zu schneiden, damit sie den Vogel wegjagen könnte. In dieser Zeit fraß der Fuchs den Eierbrei auf.
Nach einiger Zeit war der Fuchs wieder bei dem Vogel:
"Jetzt will ich trinken! Wenn du mir nicht schnell etwas zu trinken bringst, werde ich dich auffressen und deine Verwandtschaft umbringen."
Der Vogel sagte:
"Woher werde ich dir etwas zum Trinken finden?"
"Schau, dort geht ein Mann mit einem Bierfaß. Geh und fliege um den Mann."
Der Vogel ging und flog um den Kopf des Mannes. Der Alte schlug den Vogel mit dem Peitschenstiel. Er konnte den Vogel aber nicht greifen, der Schlag traf das Bierfaß und der Pfropfen sprang weg. Das Bier fing an zu fließen. Der Fuchs trank sich von dem Bier, das auf den Boden floß, satt.
Der Alte hatte seinen Sohn mit, einen kleinen Jungen. Dieser sagte:
"Vati, das Faß läuft!"
Der Alte:
"Hilf Gott, Sohn, es läuft wirklich!"
Der Fuchs trank, bis er betrunken wurde.
Dann sagte der Fuchs dem Vogel:
"Falls du mich nicht zum Lachen bringst, werde ich deine Kinder vernichten!"
Der Vogel antwortete:
"Wie kann ich dich zum Lachen bringen?"
"Laß uns ins Dorf gehen. Dort dreschen ein Alte und sein Sohn mit Dreschflegeln das Getreide. Du sollst um den Kopf des Sohns fliegen."
Der Alte schlug mit dem Dreschflegel. Gleich, als er den Vogel schlagen wollte, schlug er seinem Sohn auf den Kopf und brachte so seinen Sohn um. Der Fuchs lachte und klatschte mit seinen Pfoten.
"Bring mich zum Springen! Falls du mich nicht zum Springen bringst, werde ich deine Kinder umbringen!"
Der Vogel war wieder in Not:
"Wie kann ich dich zum Springen bringen?"
"Geh auf den Gutshof. Dort sind drei Windhunde. Ich verstecke mich hier unter dem Zaun, bringe du die Hunde heraus."
Der Vogel ging und rief die Windhunde heraus und zeigte, wo der Fuchs unter dem Zaun steckte. Die Hunde kamen und der Fuchs flüchtete schnell. Dann wurde es aber ernst und war kein Spaß mehr. Er floh in eine Höhle, die Hunde hinterher. Dort in der Höhle erholte er sich ein bißchen. Er fragte seine Füße:
"Füße, was habt ihr gemacht?"
Die Füße antworteten:
"Wir sagten: lauf, lauf, bis der Fuchs sich retten wird!"
"Ohren, was habt ihr gemacht?"
Die Ohren antworteten:
"Wir horchten fleißig, damit der Fuchs sich retten könnte."
"Augen, was habt ihr gemacht?"
"Wir schauten und schauten, damit der Fuchs in die Höhle flüchten könnte."
Er fragte den Schwanz:
"Schwanz, was hast du gemacht?"
Der Schwanz antwortete:
"Ich schlug gegen den Baum, damit die Hunde den Fuchs fangen könnten."
Der Fuchs steckte seinen Schwanz aus dem Loch hinaus und sagte:
"Nimm nur!"
Die Windhunde rissen den Schwanz ab.

107. Der Fuchs fordert Essen, Trinken und Lachen. RKM II 44, 113/9 (1) < Setu, Meremäe v., Obinitsa k. - Selma Lätt < Hemmo Mast, 54 J., geb. Ignase k. (1953). - AT 136 A* + 20 A + 21 + 56 C* (1* + 56 B* + 248 A*) + 154 IV - Das Beichten der Tiere, 21 Varianten. + Die Tiere im Fangloch (in der Grube), 68 Varianten + Das Fressen der eigenen Eingeweide, 64 Varianten + Der Fuchs fordert Essen, Trinken und Lachen (43 + 15 + 34 Varianten) + Der Fuchs und sein Schwanz, 10 Varianten. Die östlich verbreiteten Geschichten treten oft in verschiedenen Kombinationen von Kontaminationen auf.




Sündenvergebung

Ein Wolf und ein Fuchs trafen auf ihrem Weg einen Ochsen und nahmen auch ihn in ihre Gesellschaft auf. Zusammen gingen sie einige Zeit weiter.
Da fing ein starker Donner an, es fing an zu blitzen und ein gewaltiger Krach kam hinterher. Der schlaue Fuchs sagte:
"Das Ende der Welt wird tatsächlich kommen, wäre es nicht richtig, unsere ernstere Sünden einander zu bekennen, damit wir nicht unbekehrt in die Totenwelt zu gehen brauchen?"
"Das wäre eine gar vernünftige Tat," sagte der Wolf. "Ich will anfangen, höret nur zu. Ich habe eine große Sünde begangen, die mir wahrscheinlich nicht mehr vergeben wird.
Ein Mann hatte eine sehr fette Sau, die zwölf Ferkel auf einmal auf die Welt brachte. Um diese armen Ferkel kümmerte sich die Sau aber kaum - den ganzen Tag mußte ich sie hinter der Mutter schreien hören. Die Sau spazierte mit vollem Magen auf dem Feld herum und lenkte auf die Kleinen gar keine Aufmerksamkeit. Das machte mich sehr traurig. Die Geschichte mit den armen Ferkeln ging mir tief ins Herz und eines Tages biß ich die alte Sau tot und stillte meinen Ärger mit ihrem Fleisch."
Der Wolf machte eine kleine Pause und ließ vor den Augen des Ochsen ein paar Tränen fallen.
"Jetzt aber höret eine noch schlimmere Sünde, die ich begangen habe. Außerdem, daß ich die arme Sau zerrissen hatte, merkte ich, daß die Ferkel jetzt ein noch schlimmeres Leben hatten als früher, da ihre Mutter sie nicht mehr stillen konnte. Ich wurde ihretwegen traurig und ich faßte den Entschluß, sie von ihrer Not zu retten. Erfüllt von Mitleid, zerriß ich sie alle. In Reue habe ich euch meine Sünden bekannt und ich hoffe, daß ihr barmherzig sein werdet."
"Meines Erachtens zeigt diese Tat," sagte der Fuchs, "daß Sie kein allzu großes Verbrechen begangen haben. Sie haben doch auf beiden Fällen nur Gutes beabsichtigt. Für eine solche Sünde sei es Ihnen zur Strafe, daß Sie in acht Tagen kein Schafefleisch kosten dürfen."
"Jetzt aber höret auch mir bei meinem Bekenntnis zu," sprach der Fuchs weiter,"Auch ich will ihnen eine große Sünde bekennen, die schwer auf meinem Herzen lastet. - In meinem Dorf lebte einmal ein Hahn. Zwölf Hennen gackerten auf seinen Befehl überall. Das ärgrerte mich. Als er einmal mit ihren Frauen im Garten spazierte, griff ich ihn an und zerbrach ihm den Hals. Von diesem Tag an war mein Leben nirgendwo in Sicherheit mehr, da die Witwen des toten Hahns eine Rache geschwört hatten und mich überall mit ihrem Gackern plagten. Ich duldete das lange. Als ich aber einmal von ihrem Schrei und Gackern betäubt war, konnte ich nicht mehr widerstehen, ich griff sie an und zerriß sie alle. Liebe Herren, vergebt mir meine Sünden!"
"Wie es mir scheint," sagte der Wolf, "bis du gar nicht schuldig. Daß du den Hahn getötet hast, kam vielen Menschen zu Gute, weil du sie vor einem so großen Schreier gerettet hattest. Und als du zum Schluß in Not gerietst, mußtest du doch dein Leben schützen, wie es auch den Menschen erlaubt ist. Faste drei Tage, damit deine Sinne sich reinigen, friß während dieser drei Tage kein Hühnerfleisch.
Jetzt aber, Herr Ochse, bekennen Sie Ihre größten Sünden!"
"Ich weiß wirklich nicht, was ich ihnen bekennen sollte," sagte der Ochse, "eine Sünde habe ich aber doch begangen, die ich sehr bereue. In einer sehr kalten Zeit ging der Knecht vor mir. Ich merkte, daß er in seinem Bundschuh etwas Stroh hatte. Von Hunger getrieben, zog ich dieses Stroh heraus. Das war dem Knecht zu Schaden. Ich bereue und bitte um eure Barmherzigkeit."
"Du, Verbrecher," schrien der Wolf und der Fuchs. "Was hast du gemacht! Du hast das Eigentum eines unschuldigen Menschen gestohlen, der außerdem noch dein Wohltäter war! Es war deine Schuld, wenn er an seinen Füßen fror. Diese böse Tat wirst du mit deinem Leben büßen! Ein Dieb und Töter hat keine Barmherzigkeit und Vergebung verdient!"
So wurde der treue Ochse seinen Gesellen zur Nahrung. Der Wolf und der Fuchs waren aber Verwandten und vergaben einander gegenseitig die Sünden.
Ein Sprichwort besagt: "Ein Rabe pickt nicht die Augen des anderen aus."

108. Sündenvergebung. E 37551/4 < Tallinn < Setumaa - A. Borner < Luise Hennu (1898). - Mtº 139 - 4 Varianten.




Der Bär als Richter des Ochsen

Ein Ochse wollte einmal eine Bremse anklagen, weil diese immer sein ruhiges Leben verdarb. Er bat einen Bären, Gericht zu halten. Der Bär war einverstanden, diese schwere Frage zu lösen, und forderte von dem Ochsen zwei Paar Bundschuhe zum Lohn. Nun geriet der Ochse in eine schwere Lage. Er wußte nämlich nicht, wo er solche Bundschuhe bekommen sollte, die dem Bären passen würden.
Für ein faires Urteil wollte der Ochse auch den gewünschten Lohn bezahlen, aber während des Handelns - in alten Zeiten war es nämlich üblich zu handeln - wollte er einen Bundschuh von dem Preis abhandeln. Während der Ochse weiter über den Lohn überlegte, beschloß der Bär, selbst sich die Bundschuhe zu besorgen: er griff den Ochsen an, zerriß ihn und machte aus der Haut Bundschuhe.
Die Bremse kam gar leicht von den Händen des Richters.

109. Der Bär als Richter des Ochsen. ERA II 113, 27 (9) < Halliste, Abja - P. J. Sõggel < Karl Rein (1929). - Mtº 139 A - die einzige Variante.




Das Schwein tötet den Wolf

Einmal fraß eine alte Sau auf einer Wiese, die Ferkelschar lief um sie. Plötzlich kam ein Wolf aus dem Wald und wollte sich die Ferkel zur Beute haben. Die Ferkel aber liefen zu der alten Sau. Der Wolf ging ihnen hinterher, die alte Sau aber fraß weiter, als hätte sie den Wolf gar nicht gemerkt. Der Wolf wollte ein Ferkel angreifen, die Sau aber stieß dem Wolf mit ihren Eckzähnen in den Bauch und der Wolf blieb sitzen.
Die Bauer kamen den Schweinen Futter bringen und sahen mit Schreck, daß ein Wolf bei den Ferkeln sitzt, die Därme an der Seite, und gar nicht mehr weggehen kann. Die Leute wußten keinen besseren Rat, als den Wolf totzuschlagen.

110. Das Schwein tötet den Wolf. E 64357/8 (21) < Jõelähtme, Nehatu v., Muuga k. - V. E. Poissmann < Liisu Piilberg, 83 a. (1929). - [Mtº 140] - Der Ochse tötet den Wolf, 11 Varianten. Auf gleicher Weise wird in einer gegenwärtigen Jägergeschichte der gute Hund charakterisiert.




Die Wette von Wolf und Ochse

In der alten Zeit wetteten ein Wolf und ein Ochse, wer von ihnen beiden zuerst auf den Stein, der auf der Mähwiese des Dorfes Pahila lag, hochklettern kann. Mehrmals versuchten der Wolf sowie der Ochse den Stein zu besteigen, aber umsonst, sie rutschten von dem steilen Stein wieder herunter. Zum Schluß kam der Wolf zu der Spitze des Steins.
Als der Ochse und der Wolf gewettet hatten, hatten sie abgemacht, daß der Gewinner den Verlierer zerreißen darf. In Siegesfreude griff der Wolf den Ochsen sofort an seiner Kehle an und zerriß ihn. Die Spuren davon, daß die Tiere dort kletterten, kann man heute noch sehen, ebenso den Blutfluß des Ochsen.

111. Die Wette von Wolf und Ochse. E 8º I 16 (47) - M. J. Eisen < jemand namens Ränk von Saaremaa? (1923-1929). - [Mtº 140 A] - 2 Varianten. Die einzige handschriftliche Aufschreibung. Eine märchenhafte Handlung und ein Dialog fehlt, seiner Form und seinem Ende nach ist der Text eine Sage.




Vaterunser des Wolfes

Ich trabe und trotte!
Sind wir gesprungen?
Haben wir gefressen,
ein eingeschlafenes Schäflein oder ein verlassenes Böcklein zerrissen?
Da kam aber der Bauer
und nahm vom Schlitten einen Knüppel
und schlug mir auf den Rücken,
so daß ich kauernd und kriechend nach Hause ging.

112. Vaterunser des Wolfs. ERA AK 315, 30/1 (28) < Viljandi - J. Rästas - gesendet von A. Samet. - Mtº 145 - die einzige Variante; befand sich in einem alten handschriftlichen Liederbuch, wahrscheinlich aus dem Ende des 19. Jahrhunderts.