DIE VÖGEL


Der Krieg der Vögel mit den Tieren

In der alten Zeit, als alle Tiere noch sprachen, waren eine Maus und ein Spatz große Freunde.
Es kam der Frühling. Der Spatz und die Maus entschieden sich dafür, etwas Weizen zu säen. Das war ein guter Gedanke und sie säten. Gegen Herbst wurde der Weizen schon fast reif. Der Spatz fing an, aus den Weizenähren Körner zu picken. Einmal sah die Maus zufällig, daß der Spatz im Weizen saß. Sie sagte zu dem Spatz:
"Was machst du da auf dem Weizenfeld?"
Der Spatz antwortete:
"Ich schaue, ob der Weizen bald reif wird."
Die Maus konnte gar nicht ahnen, daß der Spatz den Weizen auffressen wird.
Der Spatz ging immer wieder nachschauen, wann der Weizen reif wird. Als der Herbst und die Reifezeit kamen, standen auf dem Feld leere Halme, es gab keine Körner mehr.
Einmal ging dann auch die Maus aus seiner Höhle hinaus und sah, daß alle schon Weizen ernten. Er ging den Spatz benachrichtigen, daß es an der Zeit sei, Weizen zu ernten. Der Spatz sagte:
"Ich habe jetzt keine Zeit, geh du allein."
Die Maus ging allein auf das Feld und sah, daß nur leere Ähren da waren.
Die Maus wurde zornig und wollte wissen, wer den Weizen aufgefressen hatte. Er meinte, daß der Spatz, der böse Geist, da mit seinem Wachehalten schuldig war. Die Maus suchte den Spatz, aber dieser kam nicht mehr vom Dach herunter. Von dieser Zeit an fingen die Spatze an, immer auf den Dächern zu sitzen. Die Maus aber war immer noch wütend und dachte, bin ich denn wirklich so wertlos, daß mein Freund Spatz nicht einmal mehr vor meine Augen kommt.
Die Maus ging zu dem König, um darüber zu klagen, was der Spatz getan hatte. Der König beschloß: Wir machen einen Krieg. Der Spatz aber erzählte diese Geschichte auch seinem König.
Der König der Vögel schickte einen Vogel lauschen, um zu erfahren, was der König der Tiere vorhat. Dieser Vogel lauschte und hörte, wie der König der Tiere sagte:
"Wir wollen einen Krieg führen. Der Fuchs steigt auf einen hohen Baumstumpf und hebt seinen Schwanz hoch. Solange er den Schwanz hoch hält, gehört der Sieg uns, wenn der Schwanz aber nach unten sinkt, gehört der Sieg den anderen."
Der König wußte aber nicht, daß ein Pirol zugehört hatte. Der Pirol flog zu seinem König und der König fragte:
"Hast du etwas Wichtiges gehört?"
Der Pirol sagte:
"Jawohl. Der König der Tiere hat den folgenden Entschluß gefaßt: Wenn der Kampf anfängt, steigt der Fuchs auf einen großen Baumstumpf und hebt den Schwanz hoch. Solange er den Schwanz nicht heruntersinken läßt, ist der Sieg auf ihrer Seite, wenn er den Schwanz aber herunterläßt, werden wir siegen."
Der König der Vögel rief alle Vögel zusammen. Sie berieten, wie man unter den Schwanz des Fuchses kommen könnte. Irgendjemand wendete sich an die Biene:
"Biene, hör zu, wenn wir kämpfen gehen, stich du so stark unter den Schwanz des Fuchses, daß er den Schwanz sinken läßt."
Alle gingen in den Kampf. Die Vögel sahen, daß der Fuchs tatsächlich auf dem großen Baumstumpf stand. Sie kämpften und kämpften. Die Biene ging heimlich und stach dem Fuchs sehr schmerzlich unter den Schwanz. Der Fuchs zog den Schwanz gleich zwischen die Beine und lief in den Versteck. Die anderen Tiere sahen, daß der Fuchs seinen Schwanz heruntergezogen hatte und selbst schon verschwunden war. Darauf liefen alle weg - der Bär und der Wolf und sogar der König Löwe. Die Vögel siegten.
Auch das Sprichwort sagt: "Der Mut ist die Hälfte des Sieges."

192. Der Krieg der Vögel mit den Tieren. S 109325/32 (4) < Setu, Vilo v., Mäe k. - Tatjana Uiboaid < Anna Uiboaid, 43 J. (1935). - AT 222 B* + 222 - Die Maus und der Sperling, 11 Varianten + Der Krieg der Vögel mit den Tieren, 10 Varianten. In fünf Varianten knüpft sich noch das Wundermärchen AT 313 Magisches Fliehen, an.



Der Kranich lehrt den Fuchs fliegen

Ein Fuchs sagte zu einem Kranich:
"Lehre mich fliegen! Bring mich so hoch in die Luft, bis das Feld nur so klein scheint wie die Schürze der Hausfrau."
Der Kranich erfüllte den Wunsch des Fuchses. Er brachte den Fuchs so hoch, wie dieser gewünscht hatte, und ließ ihn dann hinunterfallen.
Der Fuchs flog herunter, einmal der Kopf nach unten, dann der Schwanz und wieder einmal der Kopf, dann der Schwanz, wieder der Kopf, dann der Schwanz, bis er endlich auf der Erde ankam.
Von dieser Zeit an ist der Fuchs auf den Kranich böse und kann ihn nicht leiden.

193. Der Kranich lehrt den Fuchs fliegen. H III 27, 109 (18) < Jüri, Rae v., Vaskjala - Jüri Vitismann (1897). - AT 225 - 8 Varianten. Die älteste gedruckte Variante in Gressels Kalender (1855). Die handelnden Figuren sind variabel. Außer den obengenannten auch noch der Adler, der Frosch, der Hase.



Die Gans ertränkt den Fuchs

Eine Gans war mit ihren Jungen auf einem See. Der Fuchs ging und sah, wieviele Jungen die Gans hatte. Er dachte gleich daran, wie er sie fangen könnte. Er ging an die Küste und fing an zu loben:
"Ach du, Gans, du hast soviele schöne Jungen! Sind sie aber schön! Bring sie mir doch näher, damit ich sie besser sehen kann! Ich kann doch nicht mehr weiter kommen."
"Komm doch selbst hierher. Meine Jungen können dort nicht auf die steile Küste steigen. Komm doch selbst hierher, dem Wasser ganz nah, damit du besser sehen kannst."
Der Fuchs ging dem Wasser ganz nah, seine Pfoten waren schon im Wasser. Die Gans sprang hoch, griff ihn an, zog in den See unter das Wasser und ertränkte ihn.

194. Die Gans ertränkt den Fuchs. RKM II 156, 575 (29) < Tori, Oreküla < Suure-Jaani - Pille Kippar < Liisa Kümmel, 75 J. (1963). - AT 226 - 2 Varianten.



Wie die Gans den Wolf übertraf

Ein Wolf kam sehr hungrig auf einen Bauernhof. Er fing dort eine Gans und wollte sie auffressen.
Die Gans fing an zu bitten:
"Erlaube mir, daß ich dir zuerst ein schönes Lied beibringe, dann kannst du mich auffressen!"
Nach langem Bitten erlaubte der Wolf es ihr, zu singen.
Die Gans klatschte mit den Flügeln und sang:
"Taa-taa-taa-taa..." und stürzte plötzlich davon, direkt in die Luft. Karvuhh!
Der Wolf blieb ihr mit dem wässrigen Maul nachsehen, aber was verschwunden ist, ist auch weg.

195. Wie die Gans den Wolf übertraf. E 12614 (8) < Helme - J. Karu (1894). - AT 227 - Die Gänse bitten um Erlaubnis, zu beten, 4 Varianten.



Der Frosch lobt die Krähe

Eine Krähe hatte einmal einen furchtbaren Hunger. Sie dachte: wenn ich auch bloß Pferdekot finden würde, würde ich auch von dort ein paar Haferkörner finden, um mich zu verstärken.
Hungrig flog sie von Stelle zu Stelle. Sie kam zu einer Wasserpfütze und sah dort einen großen Frosch, der seinen Kopf übers Wasser hielt. Die Krähe dachte:
"Och-oo! Da bekomme ich einmal den Schnabel voll! Aber wie soll ich den Frosch fangen?" Sie fing an, den Frosch zu schmeicheln:
"Komm doch heraus, wir wollen mal einen Mundvoll über die Welt und Gott sprechen."
Die Frosch fürchtete:
"Ich möchte wohl kommen, aber du wirst mich auffressen."
"Das mache ich nicht."
Der Frosch:
"Ich glaube dir nicht."
Die Krähe:
"Mein Ehrenwort, ich fresse dich nicht auf!"
Zum Schluß kam der Frosch aus dem Wasser. Gleich, als er herauskam, griff die Krähe ihn in den Schnabel.
Der Frosch sagte:
"Du hast doch dein Ehrenwort gegeben."
Die Krähe fragte:
"Wer hat das gehört?"
Der Frosch aber war schlau und fing an, die Krähe zu rühmen:
"Hast du aber einen schönen grauen Rock! Und wie schön grau ist deine Hose!"
Die Krähe mochte den Lob gern. Sie fing an mitzuloben: "Die Jacke doch auch! Die Jacke doch auch!" und ließ den Frosch herunterfallen. Der Frosch sprang ins Wasser.
Mit dieser Schlauheit konnte der Frosch sein Leben retten.
Diese Geschichte erzählte mir Võsu Volli. Ich hatte bei ihm ein Ferkel zu verschneiden. Er fragte: "Was willst du dir dafür zum Lohn?" - "Ich will doch nichts haben. Bloß, wenn du eine gute Geschichte hättest." Seine Redensart war immer: Laß uns einen Mundvoll reden. Dann erzählte er mir einen Mundvoll von der Krähe und dem Frosch.

196. Der Frosch lobt die Krähe. RKM II 192, 99/103 (63) < Torma, Priidu Tammepuu < Julius Sildvee < Voldemar Odras, 55 J. (1962). - AT 227* - 14 Varianten. Ähnelt den Märchen AT 6, 57 und 242, in denen das Opfer mit seiner Schlauheit denjenigen, der es gefangen hat, zum Sprechen bringt und sich dann aus seinem Maul rettet.



Die Krähe will genau so groß werden wie der Ochse

Eine alte Krähe hatte ein einziges Junge im Nest. Dieses Junge war sehr hochmütig, es preiste alle fremden Sachen und tadelte immer seine Mutter.
Einmal, als die Mutter nicht zu Hause war, kam ein Ochse unter diesen Baum, auf dem das Nest war. Ohne ein Wort zu sagen, fing er an, sich gegen den Baum zu kratzen. Das Krähenjunge dachte, daß der Ochse ihn schaukeln will.
Bald ging der Ochse weg und nach einiger Zeit kam die alte Krähe nach Hause. Das Junge prahlte, daß ein großes Tier es geschaukelt hatte. Die Krähe wollte wissen, was für ein Tier das war. Das Junge sagte, daß es ein sehr großes Tier gewesen sei, mit einem Kessel um den Hals. Die Krähe breitete sich immer größer aus und fragte, ob das Tier so groß oder so groß war.
Das Junge sagte zum Schluß:
"Das Scheißtier war sowieso größer als du, was willst du dich umsonst ausbreiten!"
Darauf wurde die alte Krähe so böse, daß sie das Junge verließ und ganz wegging.

197. Die Krähe will genau so groß werden wie der Ochse. ERA II 276, 399/400 (7) < Karja, Pärsamaa v. - Oskar Grepp < Miina Nurm, geb. 1874 (1940). - AT 228 - Die Meise (der Zaunkönig) genau so groß sein wie der Bär (der Ochs, der Elch), 9 Varianten. Veröffentlicht in "Lugemise raamat" (1817) von O. R. Holz. Verschiedenartige handelnde Figuren zeigen die gute Anpassungsfähigkeit eines entlehnten Märchens in den estnischen Verhältnissen.



Das Rotkelchchen wäscht die Sumpfschnepfe

Die Sumpfschnepfe sauste im Nest des Rotkelchens. Das Rotkelchen kam und sagte:
"Warum willst du mein Nest zerstören? Wenn du so Lust auf Zerstören hast, geh und machte dein eigenes Nest kaputt!"
Die Sumpfschnepfe ging und zerstörte sein eigenes Nest, selbst legte sie sich vor Müdigkeit zwischen die zerschlagenen Eier schlafen.
Am Morgen ging sie zurück zum Rotkelchen. Dieses fing an, über sie zu lachen und fragte, ob sie in der Schüssel des Weißbrotteigs geschlafen habe.
"Was plauderst du, du selbst doch befahlst mir, mein Nest zu zerstören und jetzt lachst du noch! Ich hatte es vergessen und schlief auf den zerschlagenen Eiern!" sagte die Sumpfschnepfe .
"Komm, ich werde dich lieber am Wasserloch waschen!"
Das Rotkelchen ging die Sumpfschnepfe waschen, stoß sie aber ins Wasser, wo sie ertrank.

198. Das Rotkelchchen wäscht die Sumpfschnepfe. H II 7, 887/8 (6) < Jõhvi, Toila - August Tõnorist (1889). - Mtº 229C - die einzige Variante.



Der Hahn und das Birkhuhn

In der alten Zeit, als die Hühner noch keine Ställe kannten, lebten sie wie die anderen Vögel im Wald. Einmal entstand zwischen dem Hahn und dem Birkhuhn ein Streit, sie wollten klarmachen, wer die Erlaubnis bekommt, bei den Menschen zu wohnen. Keiner von den beiden gab nach und dann schlug das Birkhuhn vor, die Kräfte zu messen. Wer stärker ist, der bekommt die Erlaubnis, bei den Menschen zu wohnen.
Sie fingen an zu kämpfen. Das Rebhuhn schlug den Hahn vom Haufen herunter.
Der Hahn sagte:
"Schäme dich doch! Deine Hose ist dir doch heruntergefallen!"
Das Rebhuhn schaute auf seine Hose, inzwischen aber sprang der Hahn auf, und hoch auf den Kopf des Rebhuhns. Dort kratzte und drückte er mit seinen Sporen, bis das Rebhuhn anfing, zu bitten:
"Lieber Bruder, hör doch auf! Laß den Sieg dir gehören!"
Von dieser Zeit an hat der Hahn die Erlaubnis, bei den Menschen zu wohnen, das Rebhuhn aber bleibt im Wald.

199. Der Hahn und das Birkhuhn. ERA II 252, 437 (3) < Setu, Vilo v., Olohnuva k. - Anna Tammeorg < Anastasia Karulaan (1939). - AT 230* - Der Kampf zwischen Hahn und Birkhuhn, 4 Varianten.



Das Huhn mit Küken in den Klauen des Habichts

Einmal gab es eine Henne mit zwölf Küken. Sie nahm die Küken unter ihre Flügel, wärmte und fütterte sie. Wenn der Habicht kam, ging sie mit ihnen in den Versteck, so daß der Habicht sie nicht fangen konnte. Der Habicht wurde schon ganz wütend und machte es mit den anderen Habichten ab, daß sie nicht eher nachgeben wollen, bis sie die Henne und ihre Küken aufgefressen haben.
Andere Habichte sagten:
"Zuerst wollen wir die Mutterhenne auffressen, dann gehören die Küken schon sowieso uns."
Das gelang ihnen aber gar nicht, da die Henne Tag und Nacht bewachte und vorsichtig war, so daß die Habichte ihr nichts antun konnten.
Es geschah aber einmal, daß eine Küke nicht bei den anderen blieb, sondern sich allein Nahrung suchen wollte.
Dann nahm ein Habicht sie fest und sagte: "Wenn du Widerstand leistest, werde ich dich auffressen. Wenn du aber zeigst, wo deine Mutter ist, wo ich sie fangen kann, dann wirst du weiterleben und ich werde dir Nahrung bringen."
Die Küke sagte:
"Jaa! Ich will dir zeigen, wie du meine Mutter fangen kannst. Laß mich bloß laufen. Ich will am Abend so tun, als ob ich verlorengegangen wäre. Ich will laut piepsen: "Ip, ip, ip!" Dann kommt meine Mutter mich suchen. Dort, wo ich piepse, ist dann auch meine Mutter."
Dann geschah es tatsächlich so, daß die Henne gefangen wurde und alle Küken durcheinander waren. Die Habichte waren sehr froh und sagten:
"Am dritten Tag gibt es ein großes Fest, dann wollten wir uns von den Küken eine schöne Speise zubereiten. Solange wollen wir sie gefangen halten."
Der größte Habicht aber sagte:
"Ich will so lange nicht fasten!" Er griff diese Küke an, die ihre Mutter verraten hatte, zerriß sie zwischen seinen Nägeln und fraß auf.
Am Morgen des Festtags kamen alle Habichte zusammen und jeder wollte von der Mutterhenne etwas abhaben. Als sie aber alle stritten, riß die Henne sich los und flog weg. Sie ging ihre verlorenen Küken suchen, dort, wohin sie erschrocken gelaufen waren. Eine piepste hier, die andere dort.
Als die Küken nun wieder die Stimme der Mutter hörten - hilf Gott! wie fröhlich liefen sie alle zu ihr zusammen! Die Henne brachte alle elf wieder zusammen. Die Habichte hatten sie wohl gewundet, so daß ihre Körper mit Wunden bedeckt war. Sie hielt aber ihre Küken bei sich und wärmte sie und suchte ihnen Nahrung.
Von diesem Tag an gerieten weder die Henne noch die Küken mehr in die Klauen des Habichts.

200. Das Huhn mit Küken in den Klauen des Habichts. E 22066/8 < Vaivara - Friedrich Feldbach (1896). - Mtº 230 D - 1 Variante.



Die Krähe und der Krug

Eine Krähe hatte in der Wüste sehr starken Durst. Dort gleich in der Nähe sah er einen Krug, der bis zur Hälfte mit Wasser erfüllt war. Sie ging näher und versuchte zu trinken, reichte aber nicht bis zum Wasser. Dann versuchte sie, in den Krug zu kriechen, paßte aber nicht hinein.
Was könnte noch helfen? Sie versuchte, den Krug umzustoßen, ihre Kraft reichte aber nicht aus.
Dann überlegte sie, was sie tun sollte. Sie kam bald auf einen guten Gedanken. Sie trug solange kleine Steine in den Krug, bis das Wasser so hoch stieg, daß sie trinken konnte.
So konnte sie dank ihrer Klugheit ihren Durst stillen.

201. Die Krähe und der Krug. ÕES EK 101, 383/4 (2) und 403 (6) < Pärnu - Andres Oidermann und Otto Juhan Peterson (1835). - AT 232 D* - 19 Varianten. Populärer Lesestoff seit Willmann (1782).



Der kranke Hals der Krähe

Ein Pferd schlief auf der Heuwiese. Eine Krähe kam zu ihm nachschauen, ob das Tier lebt oder nicht. Aber auch ganz in der Nähe konnte sie nicht begreifen, wie die Sache mit dem Leben und dem Tod des Tiers war.
Eine Elster war auch dort in der Nähe, sie hatte aber auch nicht den Mut, ganz nahe zu kommen, obwohl sie dasselbe wie die Krähe, frommer Vogel, zu erfahren begehrte.
Die Elster empfahl von ferner:
"Jaak, greif an! Jaak!"
Die Krähe antwortete:
"Es ist wach, es ist wach! Das Auge ist auf!"
Die Elster zwang wieder:
"Jaak, greif an! Jaak!"
Nun griff Jaak das Pferd wirklich unter dem Schwanz an. Das Pferd drückte sie schnell mit dem Schwanz dicht zu seinem Körper. Die Krähe war mit ihrem Hals in der Falle. Zum Schluß nach langem Zappeln riß sie sich los und flog schreiend weg:
"Der Ha-aals kra-aank! Der Ha-aals kra-aank!"

202. Der kranke Hals der Krähe. ERA II 142, 477/8 (47) < Paistu, Holstre - Jaan Leppik (1937). - Mt* 233 Med - 33 Varianten. Eine auf Naturstimmen aufgebaute Geschichte, die auch als Schwank erzählt wird.



Die Nachtigall und die Blindschleiche

Einmal lebten eine Nachtigall und eine Blindschleiche in Frieden und Einklang zusammen in einem Haus. Sowohl die Nachtigall, als auch die Blindschleiche hatten nur ein Auge. Eines Tages wurde die Nachtigall zu einem Hochzeitsfest eingeladen. Sie sagte zu der Blindschleiche:
"Ich bin zum Hochzeitsfest eingeladen. Ich möchte mich nicht mit nur einem Auge zeigen. Sei doch so nett, leihe mir dein Auge. Morgen werde ich es dir zurückbringen."
Die Blindschleiche machte, was von ihm gebeten wurde.
Am nächsten Morgen kam die Nachtigall zurück. Sie hatte aber begriffen, daß man mit zwei Augen viel besser sehen konnte als mit einem.
Die Blindschleiche wollte sein Auge zurück, die Nachtigall aber gab es nicht. Dann drohte die Blindschleiche der Nachtigall mit Rache.
Die Nachtigall sagte:
"Ich baue mein Nest hoch auf eine Linde, dort kannst du mich nicht finden."
Von dieser Zeit an hat die Nachtigall zwei Augen, die Blindschleiche aber keins. Und dort, wo die Nachtigall ihr Nest auf dem Baum hat, sollen auch Blindschleichen unter dem Busch sein, um zu versuchen, ob sie hochklettern können. Wenn sie ein Nest finden, bohren sie in die Eier Löcher und saugen sie leer.

203. Die Nachtigall und die Blindschleiche. ERA II 133, 464/5 (8) < Kihnu? - M. Kurul (1873). - gesendet von T. Saar (1935). - AT 234 - 3 Varianten.



Das Bier der Krähe

Eine Krähe wollte auch Bier trinken, konnte es aber nirgendwo bekommen. Zum Schluß nahm sie es vor, selbst Bier zu brauen.
Sie trug Gerstenähren in eine Wasserpfütze und trampelte selbst darauf.
Dann fing sie an zu probieren, ob das Bier fertig sei. Es war tatsächlich fertig. Sie kostete das Bier und lobte:
"Der Geschmack von Gottes Gerste ist doch der Geschmack von Gottes Gerste."

204. Das Bier der Krähe. H III 21, 77 (9) und E 33435 (106) < Otepää, Palupera - J. Kukrus < Juuli Kukrus (1897). - AT 234 A* - Das Bier der Krähe, 21 Varianten. Man kennt auch den Schwank über das Suppenkochen oder das Pferdetränken des Zigeuners: er furzt, anstatt Mehl in den Eimer zu tun. Als handelnde Person kann auch der dumme Teufel auftreten. Von dem gleichen Märchen ist die Redewendung ausgegangen: Wird doch besser sein als bloßes Wasser.






Auf Imitationen der Vögelstimmen beruhende Geschichten


Laß kommen!

Ein Truthahn und eine Gans waren zu zweit auf der Wiese. Ein Fuchs kam aus dem Wald. Die Gans rief:
"Er ist schon na-aah! Er ist schon na-aah!"
Der Truthahn schrie:
"Tulgu-tulgu, tulgu-tulgu!" [Laß kommen, laß kommen!]
Die Gans rief noch einmal:
"Er ist schon da-aa!" und stieg in die Luft.
Der Truthahn wieder:
"Tulgu-tulgu! Tulgu..." schon nahm der Fuchs den Truthahn fest.

205. Laß kommen! E 28986 (5) < Lääne-Nigula - J. Prooses (1892). - AT 236 1) - 2 Varianten.



Tiiu hat ein Kindlein

Das Küchenmädchen des Gutshofs von Jõhvi hatte ein Kind. Es hielt aber die Sache so geheim, daß keiner davon etwas wußte.
Einmal saßen die Gutsherren auf der Treppe und fütterten Truthähne. Da sagte eine Truthenne:
"Tiiul titt [Tiiu hat ein Kindlein]," und schluckte Weißbrotstücke.
Als sie schon genug gefressen hatte, sagte sie wieder:
"Tiiul titt."
Der Truthahn wurde böse, flatterte mit den Flügeln und sagte:
"Olgu-olgu! Olgu-olgu!" [Laß sein! laß sein!]

206. Tiiu hat ein Kindlein. E 41900/1 < Kuusalu - A. Ploompuu (1901). - AT 236* 2) - 2 Varianten.



Hans hat's genommen!

Eine Henne legte in einem versteckten Ort zwölf Eier und wollte anfangen zu brüten. Bevor wollte sie aber noch ihren Hunger stillen und ging sich Nahrung suchen. Der Knecht sah, woher die Henne kam, fand das Nest und aß die Eier auf.
Die Henne kam zurück und fand das leere Nest vor. In großer Wut fing sie an zu gackern:
"Wer hat-hat-hat's geno-oommen? Wer hat-hat-hat's geno-oommen?"
Der Hahn aber hatte gesehen, daß der Knecht die Eier weggenommen hatte und rief der Henne entgegen:
"Hans hat-hat-hat! Hans hat-hat-hat!"

207. Hans hat's genommen! E 58271 (1) < Kambja - Elsa Kase (1926). - AT 236* 3) - 1 Variante.



Die Biene und der Rabe

Eine Biene ging zusammen mit einem Raben fliegen. Der Rabe hatte ein Haferkorn im Schnabel und es fiel herunter. Zuerst machte es tilkst! und dann tsolkst!
Der Rabe fragte die Biene:
"Was war das?"
Die Biene erklärte, eine Frau habe Kühe gemolken. Sie habe eine Brosche mit einem Silberdeckel gehabt. Das Haferkorn sei ihr auf die Brosche gefallen - daher "tilaht", von der Brosche sei es in die Milch gefallen - daher "tsolaht".
Der Rabe flog weiter und schimpfte. Ein Mann fragte:
"Rabe, Rabe, wohin gehst du und warum schimpfst du?"
Der Rabe sagte:
"Ich gehe dorthin. Dort ist ein reicher Mann verstorben. Dort werde ich Mittag essen."
Wenn ein Rabe über ein Haus fliegt und schreit, dann bedeutet das nicht Gutes, er bringt die Nachricht, daß bald etwas Schlechtes geschieht.
Wenn jemand krank ist, muß man einen Raben schlachten und den Kranken mit seinem Blut schmieren, davon bekommt man Hilfe.

208. Die Biene und der Rabe. KKI 6, 310/11 (58) < Setu, Ussinitsa k. - Veera Pino < Iida Pino (1948). - AT 238 - die einzige Variante.



Die Waldtaube und die Henne

Früher hatte die Waldtaube goldene und die Henne grindige Eier. Deshalb spottete die Waldtaube über die Henne und sang immer wieder:
"Arbeit-Arbeit, leeres Nest,
ich habe sechs goldene Eier,
du hast zwei grindige Eier."
Die Henne ärgerte sich zwar darüber, aber sie konnte nichts dafür.
Einmal machte sie es mit der Waldtaube so ab, daß diejenige, die zuerst auf die goldenen Eier fliegen kann, sie behalten darf. Die Waldtaube wußte natürlich, daß sie schneller fliegen konnte als die Henne, deshalb lachte sie nur und sie fingen an, um die Wette zu fliegen. Bald war die Waldtaube schon ein Stück voraus. Dann rief die Henne ihr hinterher:
"Waldtaube, Waldtaube, du verlierst einen Streifen von deinen Federn,
gehe in die Weidenbüsche ihn befestigen!"
Die Waldtaube hatte keine Zeit zum Zurückschauen, deshalb flog sie in die Weidenbüsche, um den Streifen zu befestigen. Bis sie aber zurückkam, saß die Henne schon auf den goldenen Eiern. Jetzt blieben die Goldeier der Henne und die Waldtaube bekam die grindigen.
Von dieser Zeit an legt die Henne goldene Eier und die Waldtaube hat jedes Jahr nur zwei grindige Eier. Wenn die Hirten die Waldtaube fliegen sehen, rufen sie:
"Waldtaube, Waldtaube, ein Streifen auf den Federn,
gehe in die Weidenbüsche ihn befestigen!"

209. Die Waldtaube und die Henne. E 7085/7 < Viljandi, Vana-Võidu - Hans Pihlap (1893). - AT 240 + 240* - Eiertausch, 21 Varianten + Der Wettlauf beim Eiertausch, 17 Varianten. In den estnischen handschriftlichen Sammlungen gibt es zusätzlich noch Dutzende Aufschreibungen, die lediglich Naturlaute beinhalten.



Die Heirat der Krähe

Eine Krähe wollte heiraten. Sie prahlte vor seiner Braut, daß sie genug Vorrat habe, um die Braut zu ernähren. Alle Felder voll von Getreide. So war die Frau einverstanden, ihre Ehefrau zu werden.
Es kam der Herbst. Man fing an, das Getreide wegzufahren. Die Frau der Krähe sah das zufällig und ging zu ihrem Mann, um zu klagen:
"Jaak, Jaak, sie bringen das Getreide weg!"
Jaak schämte sich. Seine Lüge war an den Tag gekommen. Jaak rief von der Spitze eines Schobers:
"Laß geht, laß geht,
wir haben's genug, wir haben's genug!"

210. Die Heirat der Krähe. E 53141 (55) < Tallinn < Tartu-Maarja - Paul Berg (=Ariste) < Liisa Berg (1922). - AT 243* - 97 Varianten. Ungefähr 1/4 der Aufschreibungen (32) sind Naturlaute, die sich nicht zu Märchen entwickelt haben. Auf der Insel Saaremaa singt man auch gereimte Volkslieder gleichen Themas (ca 50 Varianten). Vgl. vanasõna EV 10564. Vt. P. Kippar. Varese naisevõtt (AT 243*). - Rahvasuust kirjapanekuni. Uurimusi rahvaluule proosaloomingust ja kogumisloost. [Vom Volksmund bis zum Aufschreiben. Forschungen über die Prosawerke der Volksüberlieferung und über ihre Sammlungsgeschichte.] Tallinn, 1985, S. 83-100.



Die Krähe und die Elster
Geschichten, die auf den Vögellauten basieren



Das Pferd ist tot

Eine Krähe fand den Kadaver eines Pferdes und rief:
"Das Pferd ist tot! Das Pferd ist tot!"
Die andere fragt:
"Ist es fett? Ist es fett?"
"Nur Fett! Nur Fett!"
"Ich komme auch! Ich komme auch!"
"Bloß Haut und Knochen! Bloß Haut und Knochen!"

211. Das Pferd ist tot. ERA II 29, 779 (2) < Käina - J. Sooster (1896/97). - Mt° 243 C 1) - 19 Varianten.



Die Krähe, die Elster und der Rabe auf der Beute

Einmal fuhr ein Mann mit einem alten Pferd auf dem Weg und schlug das Tier immer wieder mit der Peitsche. Das Pferd war aber müde und hungrig, deshalb hatten die Peitschenschläge keine Wirkung. Das arme Tier wankte langsam vor dem Lastwagen weiter.
Eine alte Krähe merkte, daß die Kraft des Tieres fast zu Ende war. Sie sprang von einem Pfahl auf den anderen und sprach:
"Treib es zu dem Zaun! Treib es zu dem Zaun!"
Der Mann erklärte:
"Wenn ich es zu dem Zaun treibe, bist du die erste, die ihm die Augen auspickt," und schlug das Pferd immer weiter, bis das Tier gar keine Kraft mehr hatte.
Noch zum letzten Mal nahm das Pferd seine Kräfte zusammen und wollte einem Peitschenschlag abweichen. Es kam an den Wegrand, fiel dort erschöpft auf die Erde und gab seinen Geist auf.
Die Krähe, alter Graurock, war sehr froh, als sie sah, daß seine Hoffnung sich erfüllt hatte. Sie flog näher und fing an, die Augen auszupicken. Sie war selbst sehr stolz dabei und schrie:
"Siehe, das alles ist me-eeins!"
Eine Elster hörte das Prahlen der Krähe, flog auch näher und sagte zwitschernd:
"Nur bis hier! Nur bis hier!"
Der alte Schwarzmantel Rabe kreiste hoch in der Luft und ließ sich allmählich nieder. Als er das Streiten der anderen hörte, sagte er:
"Teufel! Von hier bekommt niemand ein Stück ab! Alles gehört mir!" und er jagte alle anderen weg. So blieb der Rabe der Besitzer des ganzen Fleisches.

212. Die Krähe, die Elster und der Rabe auf der Beute. H II 37, 758/9 (9) < Jõhvi - Tõnu Wiedemann (1892). - Mtº 243 C 2) + º243 C 3). - Fahr an den Zaun, 5 Varianten + Bis hierher, 14Varianten.



Wunde! Wunde!

Eine Elster sah einmal, wie ein Mädchen sich auf dem Gras schlafend so gewälzt hatte, daß sein Körper sich entblößt hatte. Die Elster fing an zu singen:
"Prigu, prigu, prigu! [Wunde!]"
Riß! Riß! Riß!
Diese Wunde wird nie mehr heil!"

213. Wunde! Wunde! ERA II 23, 387 (6) < Märjamaa - Emilie Poom (1930). - Mtº 243 C 4) - 12 Varianten. - Die Stimme der Elster wird nachgeahmt. Viele Aufschreibungen beschränken sich auf die direkte Rede; wenn der einleitende Satz und die Handlung fehlen, gibt es auch kein Märchen.



Wortstreite

Eine Krähe und eine Elster fingen an, bei einem Aas zu streiten. Die schlaue Krähe schrie:
"Geht nicht! Geht nicht!"
Die Elster meinte, es gehe wohl.
Die Krähe schrie:
"Du kennst die Sache nicht! Du kennst die Sache nicht!"
Die Elster wiederum:
"Wie darfst du einen Herrn ausschimpfen!"
Die Krähe:
"Ach du Teufel! Ach du Teufel!"
Dann fanden sie nicht weit von dem Fluß Kose ein Kohlfaß auf dem Weg. Einer aus der Stadt Tartu war aus Tallinn gekommen und hatte es verloren. Die Elster wußte nicht, was im Faß war. Sie schlug das Faß mit dem Schnabel und sagte:
"Feine Speise! Feine Speise!"
Auf die Rufe der Elster kam ein Rabe, kostete seinerseits den Inhalt des Fasses und sagte:
"Fraß! Fraß!"
Darauf kam auch die Krähe zum Faß und sagte:
"Ko-oohl! Ko-oohl!"
Erst die Krähe erkannte, was für eine Speise das war.

214. Wortstreite. ERA II 149, 77 (25) < Hageri < Kose - Hans Mesikäpp - E 38430 (1) Kose - Tõnu Wiedemann (1899). - Mtº 243 C 5) + 6) - Das gefundene Kohlfaß, 4 Varianten + Roog! Roog!, 13 Varianten.



Wo ist das Roß?

Ein Strandmann brachte vom Festland Roggen. Er spannte einen jungen Ochsen vor den Schlitten und wollte zur Mühle fahren. Er kam in den Wald. Eine Krähe schrie auf einem Baum:
"Warum mit dem Ochsen? Warum mit dem Ochsen? Wo ist das Ro-ooß? Wo ist das Ro-ooß?"
Der Strandmann sagte:
"Was schimpfst du da! Das Roß ist doch schon zum dritten Jahr in deinem Magen!"

215. Wo ist das Roß? Mtº 243 C 6) - die einzige Variante. M. Nurmik. Eesti kooli esimene lugemik. [Das erste Lesebuch der Schule.] Tallinn, 1920 (1921), S. 134 (112).



Der Rabe in fremden Federn

Ein Rabe war sehr hochmütig. Er wollte sich weiß waschen und der König der Waldvögel werden. Er wusch sich jeden Tag, aber so schwarz, wie er früher war, blieb er weiterhin.
Nun sammelte er allmögliche Federn von anderen Vögeln. Er zog alle eigenen Federn ab und schmückte sich so, daß er ganz schön wurde. Danach fing er an, ganz hochmütig zu sein und auf andere Vögel zu lachen, da sie nicht so schön waren wie er.
Als die übrigen Vögel das sahen, versammelten sie sich und faßten den Entschluß, daß jeder Vogel seine Federn zurücknehmen soll. So kamen sie alle zusammen und jeder nahm seine Federn.
Ach! Was sollte der arme Rabe nun anfangen! Wegen seiner Dummheit und seines Stolzes wurde er von den übrigen Vögeln ausgelacht und mußte in großer Scham weiterleben.

216. Der Rabe in fremden Federn. ÕES EK 101, 223/4 und 405/6 < Pärnu - Otto Juhan Peterson und Peter Janson (1835); E 21642/3 < Kroonlinn < Pilistvere - Jaan Keller (1895). - AT 244 - 7 Varianten. Handschriftliche Texte sind wahrscheinlich beeinflußt von Druckschriften (Willmann 1782).



Die Krähe und die Meise

Eine Krähe sah, daß eine Meise ein sehr schöner Vogel war und ging um sie freien. Die Meise freute sich, eine Krähe zum Ehemann zu bekommen.
Die Krähe fragte die Meise:
"Warum bist du so klein? Wärest du etwas größer, würde ich dich wohl heiraten."
Die Meise antwortete:
"Ich bin doch noch jung, ich werde noch wachsen."
Einmal kam die Krähe von draußen und sagte:
"Ist das Wetter heute aber kalt!"
Die Meise sagte:
"Jetzt ist es doch gar nicht kalt, ich habe auch eine solche Kälte erlebt, daß die Hand der Frau im Teigtrog erfror und der Kessel bei einem Rand kochte und bei dem anderen mit Eis bedeckt war!"
Als die Krähe erfuhr, daß die Meise so alt war, wollte sie von ihr nichts mehr wissen.

217. Die Krähe und die Meise. H II 23, 80/1 (4) < Karksi khk. und v. - Juhan Kuusik (1889). - AT 244** - 5 Varianten.



Wie der Kranich das Rebhuhn heiraten wollte

Der Kranich hat lange Beine. Er wollte eine Frau von kleinerem Schlag heiraten. Er ging aufs Feld um ein Rebhuhn freien.
"Hallo, hallo!" sagte er zu dem Rebhuhn. "Wie wäre es, wenn wir ein Paar würden? Ich kam, um dich zu heiraten."
Das Rebhuhn sieht sich um und findet, daß der Brautigam sehr groß ist.
"Ich bin doch so klein und bin gewöhnt, auf dem Feld zu leben. Wie werde ich im Sumpf laufen, meine Beine sind doch so kurz."
Der Kranich empörte sich wegen der Ablehnung des Rebhuhns, da es die Freite nicht zugelassen hatte. Mißmütig ging er zurück in den Sumpf und dachte:
"Ich hätte es doch heiraten sollen. Welch eine Frau ich bekommen hätte! Na gut, ich werde gar keine Frau heiraten."
Das Rebhuhn ging die Wiese entlang und schaute, wie der Kranich auf seinen langen Beinen über die Grashügelchen schritt. Das Rebhuhn dachte:
"Ich hätte doch seine Frau werden sollen. Welch einer Bräutigam er gewesen wäre!"
Nun sieht der Kranich, daß das Rebhuhn ihm näher kommt, immer näher und näher. Der Kranich schaut über seine linke Schulter zurück:
"Pfui! Welch eine Frau ich bekommen hätte! Dreht sich wie eine Kartoffel und kann nicht über den Grashügel."
Das Rebhuhn empörte sich und kam zurück auf die Wiese. Der Kranich fing an zu denken, daß, sei es auch klein, doch hätte er ja eine Frau bekommen. Sie hätten doch auch in einen weniger hügeligen Ort ziehen können.
"Ich gehe und heirate es trotzdem," dachte er.
Er kam zurück auf die Wiese.
Das Rebhuhn meinte:
"Das wäre doch kein Mann für mich gewesen: lange Beine, zerknitterte Kleider an. Das wäre doch kein Mann gewesen!"
Siehe, einer verachtet den einen, der andere den anderen!

218. Wie der Kranich das Rebhuhn heiraten wollte. ERA II 163, 265/7 (48) < Setu, Vilo v. und k. - Nikolai Ress < Irina Lepistik (1937). - AT 244 A* - Der Storch und der Kranich, 2 Varianten aus Setu, 1 aus Druckschriften. Die Geschichte ist auch bei den Slawen bekannt.



Die Krähe ertränkt ihre Jungen

Eine Krähe lebte zusammen mit ihren Jungen bei einem See. Es geschah so, daß sie auf die andere Küste des Sees ziehen wollte. Die Jungen aber konnten noch nicht fliegen und die alte Krähe nahm es vor, sie auf ihrem Rücken auf die andere Seite zu tragen. Sie war mit dem ersten Jungen bis zu der Mitte des Sees gekommen, als sie auf den Gedanken kam, herauszufinden, was von ihren Jungen werden würde.
Sie fragte das Junge:
"Was wirst du machen, wenn du schon groß bist?"
Das Junge fing an zu erzählen, daß es sich um die Mutter kümmern wird. Die alte Krähe dachte, daß von dem Jungen nur ein lügnerisches Kind werden kann und ließ das Junge in den See fallen.
So geschah es auch mit dem zweiten, dem dritten und dem vierten Jungen. Das fünfte Junge sagte, wenn es groß wird, werde es sich um seine eigenen Kinder kümmern.
Die alte Krähe brachte dieses Junge schön auf die andere Seite, wo es weiterlebte.

219. Die Krähe ertränkt ihre Jungen. ERA II 276, 400/01 (8) < Karja, Pärsamaa v., Pamma k. - Oskar Grepp < Miina Nurm, geb. 1874 (1940). - AT 244 C* - 4 Varianten.



Der Wachtelkönig

Ein Wachtelkönig hatte seine Jungen auf einem Roggenfeld großgezogen. Es näherte sich die Erntezeit. Die Wachtelkönig-Mutter ging Nahrung suchen und befahl seinen Jungen, das zu beachten, was der Bauer sagt, wenn er aufs Feld kommt.
Der Bauer kam mit seinen Söhnen und redete so:
"Das Getreide ist schon reif. Morgen werde ich meine Freunde zu mir einladen, um gemeinsam zu ernten."
Als der alte Wachtelkönig am Abend nach Hause kam, zitterten die Jungen vor großer Angst und erzählten ihrer Mutter alles, was der Bauer gesagt hatte.
Die Mutter aber beruhigte sie:
"Man soll noch nicht fürchten! Wer auf die anderen hofft, hat noch keinen festen Plan im Kopf."
Bald kam der Bauer zum zweiten Mal zu dem Feld und hatte auch schon eine andere Rede:
"Die Körner fallen schon, man kann nicht mehr auf die anderen hoffen, sondern wir müssen morgen selbst mit Hilfe Gottes mit der Arbeit anfangen."
Als jetzt der alte Wachtelkönig von der Rede des Bauern hörte, sagte er:
"Jetzt ist es an der Zeit, daß wir weggehen und unser Nest verlassen. Jetzt zögert er nicht mehr, da er nicht mehr auf die anderen hofft!"

220. Der Wachtelkönig. E 32837/9 (32) < Viljandi, Vana-Võidu - Hans Maaten (1897). - Mt* 244 Med - 5 Varianten.



Das Birkhuhn und die Krähe

Ein Birkhuhn fragte eine Krähe:
"Sag doch, alter Bruder, wie kommt es, daß man dich nah bei den Häusern leben läßt, daß man aber meinetwegen in den Wald kommt, um mich zu töten?"
Die Krähe sagte:
"Du sollst nicht jedem Glauben schenken. Da kommt ein kleiner Junge, macht so, als würde er uns gar nicht merken, versucht aber den Stein, den er in der Hand hat, auf uns zu werfen. Mach so wie ich."
Und sie flog weg.

221. Das Birkhuhn und die Krähe. H II 22, 481 (1) < Halliste, Kaarli v. - Mats Laarmann (1889). - AT 245 - 16 Varianten. Auf das Märchen geht die populäre Redewendung zurück: "Er hat vorn und hinten Augen, wie die Krähe auf der Dorfstraße."



Die Krähe ist böse

"Siehe, wie leichtfertige Menschen alle zusammenlaufen, um dem Singen des Faulenzers Kuckuck zuzuhören, als wäre das etwas Besonderes, er ist doch zu faul, um auch bloß dieselbe Weise mehr zu singen als nur ein paar Mundvoll.
Ich bin doch ein richtiger Mann, sei es Sommer oder Winter, ich bin immer bei ihnen und mein Lied ist wie Goldstücke, die einfach auf die Erde fallen. Meinem Lied will aber keiner zuhören, ihr dumme Leute!"

222. Die Krähe ist böse. E 33597 (4) < Tarvastu, Vooru - Johan Kala < P. Keder, 80 J. (1897). - Mtº 245 A - 10 Varianten. Mehrere Varianten sind Monologe der Krähe, die auf der Ebene des Naturlautes geblieben sind.



Die Krähe sieht keine Rüben

Als ich noch kleiner Junge war, erzählten ein alter Mann und eine alte Frau mir diese Geschichte. Die Frau sagte:
"In der alten Zeit sollen alle Krähen grau gewesen sein, jetzt aber haben sie einen Fleck schwarz, den anderen grau."
Der Alte sagte:
"Warte, ich will dir die Geschichte erzählen, warum es so ist."
Einmal hatte ein Bauer Rüben gesät. Siehe, die Saat war klein, er säte sie gemischt mit Sand. Eine Krähe sah das und ging sich dort Nahrung suchen. Sie suchte und suchte, konnte aber nichts finden und sagte zum Schluß:
"Das ist ein verrückter Bauer, er säet nur Sand aufs Feld," und ging weg.
Einmal später, gegen Herbst kam sie zufällig wieder bei dem Feld vorbei. Sie sah, daß das Feldstück sehr fruchtbar aussah. Sie ließ sich neben das Feld nieder, sah sich um und sagte:
"Die wachsen doch wie verrückt! Wie Flachs! Wo waren meine Augen, als er sie säte, daß ich nichts finden konnte! Ich könnte mich schwarz verwünschen..."
Plötzlich sah sie eine Kugel kommen. Die Krähe schlüpfte weg, ohne den Fluch beenden zu können. So blieben ihr einige Federn schwarz, einige grau, wie man es heute noch sehen kann."
So erzählte der Alte.

223. Die Krähe sieht keine Rüben. E 47421 < Pärnu - A. Karu (1910). - Mtº 245 C - 2 Varianten.



Das Gespräch zwischen Kiebitz und Drossel

Eine Drossel, die im Zimmer aufgewachsen war, flog hinaus und traf einen Kiebitz. Der Kiebitz fragte bald:
"Was sagen die Menschen über das Singen der Vögel?"
Die Drossel sagte:
"Die Nachtigall wird überall gelobt, die Lerche wird ebenso in Ehre gehalten, und manchmal werde auch ich gelobt."
"Spricht denn keiner von mir?" fragte der Kiebitz.
"Nein! Es wird nicht einmal dein Name erwähnt."
"Sehr gut!" sagte der Kiebitz. "Dann will ich mich selbst benennen," und er fing an zu schreien: "Kiebitz! Kiebitz!"
Von dieser Zeit an singt er nichts als seinen Namen.

224. Das Gespräch zwischen Kiebitz und Drossel. H I 5, 451/2 (4) < Viljandi - Anton Suurkask (1894). - AT 247 A* - 10 Varianten. In Estland kennt man auch eine andere Geschichte mit der Stimme des Kiebitz. Die Sage hat es, daß der Kiebitz während des Krieges die Verfolger auf die Spur versteckter Leute gebracht hat: "Hier ist einer! Hier ist einer!" (Siin üks! Siin üks!).



Der Hund und der Sperling

Es war einmal ein alter Hund. Er konnte nachts nicht mehr bellen und auch keinen Dieb fangen und deshalb wurde er aus dem Haus gejagt. Klagend ging er weiter und kam zum Schluß in einer Stadt an.
Neben dem Weg auf einem Baum saß ein Spatz und fragte, was mit ihm los sei. Der Hund erzählte seine Geschichte und klagte, daß er sehr hungrig sei.
"Komm," sagte der Spatz, "ich werde dich mit Nahrung versorgen."
Sie gingen in die Stadt und durch eine Tür in ein Haus. Die Leute waren nicht zu Hause. An der Decke hing ein Brotleib. Der Spatz zog das Brot herunter und der Hund fing an zu fressen.
"Wird es schon bald genug?" fragte der Spatz, als der Hund mit dem Fressen aufhörte.
"Das Dicke reicht schon, aber ich möchte noch etwas Dünnes bekommen," sagte dieser.
In einem anderen Haus gab es eine große Erbsenschüssel auf dem Tisch. Der Hund fing an zu lecken:
"Das geht schon, das geht schon!"
"Dummkopf," sagte der Spatz, "wie soll es nicht gehen! Gute Erbsensuppe."
Nun beliebte es ihnen, auf die Reise zu gehen. Als sie schon außerhalb der Stadt waren, sagte der Hund:
"Ich möchte hier auf dem Weg meinen Mittagsschlaf schlafen."
Der Vogel flog auf einen Baum und fing an zu singen.
Es fuhr gerade ein Kneipwirt vorbei und direkt über den Hund. Der Spatz fing an zu schimpfen, das half aber nichts mehr. In großer Wut flog er dem Mann nach und zog den Pfropfen aus dem Branntweinfaß des Kneipwirts heraus. Er ließ den Branntwein auf die Erde fließen.

225. Der Hund und der Sperling. H III 7, 311/2 (4) < Viljandi - Hermann Nigul (1889). - AT 248 - 10 Varianten.