Am II. Internationalen Anthropologischen und Ethnologischen Kongreß in Kopenhagen (1.- 6. August 1938) lernte ich einen jungen estnischen Folkloristen kennen, den man hauptsächlich in Gesellschaft von F. Linnus, G. Berg und S. Erixon sehen konnte. Er hieß Oskar Loorits. Bei dieser Gelegenheit konnten wir nur flüchtig einige Worte wechseln, und erst viel später, im Winter 1947/48, trafen wir wieder zusammen, diesmal in Stockholm. In der Bibliothek des Nordiska Museum lasen und notierten wir gemeinsam, und ich bestaunte insgeheim seine umfangreiche wissenschaftliche Tätigkeit. Auch er gehörte zu den vorzüglichen estnischen Wissenschaftlern, die ihre Heimat wegen des roten Wahnsinns verlassen haben, in Schweden freundschaftlich aufgenommen wurden und somit dem tragischen Schicksal der Deportierten entgingen. G. Ränk, I. Talve, E. Laid, H. Hagar und andere gehörten zu den estnischen Gelehrten, denen die schwedischen Kollegen ein Zuhause und schöpferische Möglichkeiten sicherten.
Schon früher, in Ungarn, bekam ich ein Buch von O. Loorits zu lesen: Das sog. Weiberfest bei den Russen und Setukesen in Estland.1 Ich las es mit besonderem Interesse, erweckt schon durch den aufschlußreichen Aufsatz von I. Manninen über `Die Gebäude der Setukesen'.2
Die angefährte Arbeit von O. Loorits hat mich derart beeindruckt, daß ich darüber auf ungarisch,3 sodann in deutscher Sprache4 eine Rezension schrieb. (Es freute mich besonders, daß die Besprechung in Anthropos, der führenden Fachzeitschrift der Welt, erschienen ist.) Das lehrreiche Buch von O. Loorits hielt ich auch weiterhhin in Evidenz - so beruht etwa auf seinen Ergebnissen mein Aufsatz über die mittel- und westeuropäischen Weiberfeste.5
Das Loorits-Werk über die Weiberfeste führte mich außerdem zu der Erkenntnis, daß ich praktisch alle Arbeiten dieses vorzüglichen Wissenschaftlers aufmerksam verfolgen muß. Kein Zufall also, daß ich in meiner zusammenfassender Abhandlung über die Fachliteratur der Fischerei, die ich für den Sammelband The Fishing Culture of the World6 geschrieben habe, das Buch Gedanken-, Tat- und Worttabu von O. Loorits als `a pioneering work' bezeichnete.
Es ist meine feste Überzeugung, daß O. Loorits zur Weltelite der Folkloristen gehört. All seine Abhandlungen und Bücher beruhen auf den estnischen Volksüberlieferungen, doch versetzt er die Bräuche, Märchen und Volkslieder in den weitmöglichsten Rahmen und bearbeitet sie aus verschiedenen Gesichtspunkten. Bahnbrechend wirkt er auf dem Gebiet der psychologischen Erklärungen. Aus seiner immensen Materialsammlung kann er jederzeit eine Gewohnheit, eine Tat oder eine Tradition herausgreifen, die zur Weitererforschung inspiriert. Man denke bloß daran, was er in seiner Arbeit über das Tabu (S. 98-99) der den Wassergeistern dargebrachten Pferdeopfer schreibt. Das Problem des europäischen Feuerkultes stellt er in ein neues Licht in seinem Buch `Über das Gespräch des verwahrlosten und rächerischen Hausfeuers'.7 Er verweist darauf, daß diese Zwiegesprächsage nur in ortodoxer Umgebung sowie im Baltikum bekannt sei, wo schon vor dem 13. Jh. enge Beziehungen zur ortodoxen Welt bestanden - vielleicht sei diese baltische Kulturerscheinung gar ein entferntes Echo aus Byzanz und dem Balkan. Zweifellos sind aber ihre weiteren Spuren in den sibirischen Volksmärchen zu finden.8
Nicht nur die verschiedenen finno-ugrischen Disziplinen, sondern auch aus der Sicht der verschiedene Völker umfassenden ost- und nordeuropäischen Kulturentwicklung ist das dreibändige Werk von O. Loorits von grundlegender Bedeutung.9 In dieser Arbeit, die der Verfasser für die den estnischen Flüchtlingen gebotenen Hilfe dem schwedischen Volk gewidmet hat, gewinnen wir einen Überblick über die Entwicklung der finno-ugrischen Völker, die historischen Schichten der estnischen Glaubenswelt und über die christlichen Einwirkungen; Loorits sucht ferner den volkspsychologischen und sozialen Hintergrung des estnischen Volksglaubens, die Wirkung der ökologischen Verhältnisse, das allgemein Menschliche. Bei den psychologischen Erklärungen stützt er sich unfehlbar auf die psychologischen Lehren von C. G. Jung. Mit Hinweis auf den Schamanismus bemerkt er tiefsinnig, daß `die faustischen Neurosen auch bei den Esten, Finnen und Ungarn nicht zu leugnen sind'.10
Doch wollen wir auch weitere ungarische Bezugnahmen nicht übersehen.
Im Laufe seiner Tätigkeit stützte sich O. Loorits häufig auf ungarische Ergebnisse und Daten. Seinen Möglichkeiten und Zielen entsprechend verfolgte er die ungarische Folkloreliteratur, bemühte sich aber auch, durch persönliche Bekanntschaften und Korrespondenz Kontakte mit ungarischen Fachleuten herzustellen (Ö. Beke, T. Bogyay, M. de Ferdinandy, P. Hajdu, J. Honti, B. Korompay, Gy. Németh, G. Róheim, S. Solymossy, J. Szövérffy, H. v. Wlislocki, M. Zsirai). Bemerkenswert, daß er sogar jenen Artikel von B. Zabolcsi kennt, welcher in einer mittelmäßigen literarischen Zeitung erschienen ist und wo Szabolcsi schreibt, daß laut Zeugnis der Melodiegeschichte ein Volkselement des Ungartums aus der Zeit vor der Landnahme zentralasiatischer Herkunft sei.11 Er weiß von der phantastischen Ansicht, die in der ungarischen historischen Literatur auftauchte, wonach die Urheimat der finno-ugrischen Völker in Zentralasien bei der chinesischen Grenze sei. Diese Meinung des orthodoxen Marxisten E. Molnár wurde damals (1953-1955) von einer ganzen Reihe ungarischen Sprachwissenschaftler widerlegt. Auch das blieb O. Loorits nicht verborgen.12
Der uralische Heroskult - behauptet O. Loorits - beschränkt sich auf die sog. Kulturherosen, während sich der Heroskult der östlichen finno-ugrischen Stämme unter altaischem Einfluß entwickelte. Der Heldenkult der Tscheremissen ist eine rezente Übernahme von den Nachbarn. Bei diesem Feststellungen stützt sich Loorits nicht nur auf die Forschungen von U. Harva sowie anderer finnischer und russsischer Folkloristen, sondern beachtet auch die Ansichten von G. Róheim über die mythologische Verwandtschaft.13 In einer kurzen Bemerkung erwähnt er die bei den Ungarn sowie anderen finno-ugrischen und türkischen Völker verbreitete Sage von der Mischung der Sprache,14 fügt aber hinzu: `... in der Tat sind diese Ursprungssagen sehr verschiedenen und z. B. viel jüngeren Ursprungs'. Er betont, Gy. Németh habe eine sehr gute Übersicht darüber geboten, `wie sich das Ungartum aus dem uralischen Kernvölkchen zu einem Volk altaischer Organisation entwickelt hat'.15 O. Loorits charakterisiert den estischen, finnischen und, ganz allgemein, den uralischen Menschen aus volkspsychologischer Sicht: der uralische Mesch - schreibt er - sei ruhig, passiv, vermeide den Krieg und den Angriff, auch die Gewohnheiten seines alltäglichen Lebens seien friedlich und still: er schaffe ohne größeres Aufsehen oder Lärm, in der Fröhlichkeit und im Spiel sei er durch Zurückhaltung gekennzeichnet. Der Tanz ist bei den finno-ugrischen Völkern relativ unterentwickelt, bei den Esten wird er mit einem rezenten deutsch-schwedischen Lehnort bezeichnet (tants). Die alte ostseefinnische Bezeichnung des Tanzes bedeutet `springen' (kargus bei den Setukesen). Für die Tänze des Ungartums ist eine eigene Entwicklung bezeichnend.16
In einer Abhandlung schreibt O. Loorits über die `Zwerge in der estnischen Volksüberlieferung'.17 In einem Volkslied, schreibt er, werden die Ungarn erwähnt (Insel Saaremaa):
pöial-poegade peresse
makiarkide majasse
(`in das Heim der Bauernsöhne,
in das Haus der Madjaren')
J. Mägiste gibt zu bedenken, daß die Terminologie makiark (Gen. Plur. makiarkide) bereits im Wörterbuch von F. J. Wiedemann vorkommt, in der Zusammensetzung maki-hark (bedeutet `dicker, kurzbeiniger Mensch, Holz zum Umrühren der Bierwärze'), `die aus den estischen Wörtern (westestn.) makk `Biermaische, ungehopfte Bierwürze' und hark `Gabel, Ofengabel, zackiges Holz und dgl. besteht, ursprünglich etwa `Biermaischengabel, -stock, -quirl' bedeutete und später figürlich auch als eine Bezeichnung für einen kurzen dickbeinigen Menschen gebraucht worden ist'.18
O. Loorits befaßt sich eingehend mit den estnischen mythologischen Figuren, mit dem Schamanismus. Leider haben die ungarischen Forscher seine analytischen Feststellungen über die menschlichen und geschichtlichen Wurzeln des Schmanismus sowie über das Verhalten der Schamanen völlig außer acht gelassen, übersahen aber auch seine Meinung über den Peko-Kult. Bei den Setukesen ist peko eine Vegetationspuppe, kommt aber auch aks Hausgott, Getreidegott und eigentlich als Schutzgeist vor. Dies zeigt sich ganz deutlich in einem Kultlied:
Peko, o lieber Peko,
bewahre du unser Getreide,
beschütze unsere Viehherde,
behüte unser Haus und Leben!19
Die estnische Peko - Tradition besteht aus mehreren Schichten und geht auf den finnisch-ugrischen Ahnenkult zurück.20 Die ostseefinnische Terminologie pekko hält O. Loorits - nach J. Fazekas - für eine Analogie des ungarischen feke `Teufel' (vgl. fekete, vitere ?), `Schwarze Macht'.21 Dazu zählt er noch folgendes: `... im Ungarischen feki, feke- `Hölle, Teufel, Geschwür', fekély, fökön, fökén `Geschwür, Warze', fekete `schwarz' (vgl. vitéz, táltos, bika, fene, himlö `schwarze Macht' ...'.)22 Zu diesen etymologischen Zusammenhängen müssen sich noch die ungarischen Sprachwissenschaftler äußern. Bei seinen mythologischen Erklärungen beachtet O. Loorits auch die Etymologie der ungarischen Wörter hisz `glauben' und okos `klug', und verweist auf orientalische Züge der ungarischen Volksmärchen.23
Damit seien die ungarisch bezogenen Aufführungen, Angaben und Meinungen von O. Loorits keineswegs abgeschlossen, doch konnte ich vielleicht die markante Präsenz seines schöpferischen Geistes auf allen Gebieten der Folklore illustrieren. Stets geht er von der Untersuchung estnischer Volkstradition aus, setzt sich aber über verschiedene Schranken hinweg und trachtet in den Schöpfungen des estnischen Volksgeistes auch das ewig Menschliche zu finden. Wir, Ungarn, können uns nur freuen, daß sich die Aufmerksamkeit dieses hervorragenden Wissenschaftlers auch auf uns, auf die traditionelle Kultur eines entfernten, unter anderen geschichtlichen Verhältnissen lebenden Brudervolkes, erstreckt.
1 Loorits, O. Das sogenannte Weiberfest bei den Russen und Setukesen in Estland. Tartu, 1940.
2 Manninen, I. Die Gebäude der Setukesen. In: Studia Fennica III. 1938, S. 83-111.
3 Gunda, B. Ethnographia LII. Budapest, 1941, S. 77.
4 Gunda, B. Antropos. 1942-1945, No. 37-38. Posieux-Froideville 1946, S. 408.
5 Gunda, B. A rostaforgató asszony. Budapest, 1989, S. 131-143.
6 The Fishing Culture of the World. Budapest, 1984.
7 Loorits, O. Über das Gespräch des verwahrlosten und rächerischen Hausfeuers. Tartu, 1936.
8 Loorits, O. Das misshandelte und sich rächende Feuer. Tartu, 1935.
9 Loorits, O. Grundzüge des estnischen Volksglaubens (GEV) I-III. Uppsala 1949-1957.
10 Op cit. III, S 505.
11 Szabolcsi, B. Irodalmi Ujság. Bd. V. Budapest, 1954, Nr. 1, S. 6.
12 Notiz 9, GEV III, S. 228.
13 Róheim, G. Hungarian and the Vogul Mythology. New York, 1954, S. 23.
14 Notiz 9, GEV III, S. 229-230, vgl. noch Some Notes on the Repertoire of the Estonian Folk-Tale. Tartu 1937, S. 18-20.
15 Notiz 9, GEV III, S. 238.
16 Notiz 9, GEV III, S. 460-461.
17 Loorits, O. Zwerge in der estnischen Volksüberlieferung. In: Festschrift für Max Vasmer. BerlinWiesbaden, 1956, S. 264-272; GEV III, S. 87.
18 Mägiste, J. Viron maki (h)ark ja madjaari. In: Virittäjä. 1957, S. 100102.
19 Notiz 9, GEV II, S. 103.
20 Notiz 9, GEV II, S. 109, GEV III, S. 406.
21 Notiz 9, GEV III, S. 406.
22 Notiz 9, GEV III, S. 510.
23 Notiz 9, GEV III, S. 410.