DER SADISMUS IN DER GEGENWÄRTIGEN FOLKLORE ESTLANDS

Reet Hiiemäe. Tartu

Das Thema, das ich für meinen Vortrag ausgewählt habe, ist in estnischen Folkloreforschungen bis heute fast gar nicht behandelt worden. Man hat auch die Geschichten, die zu grausam und häßlich scheinen, nicht aufgeschrieben, weil man sie überhaupt nicht für Folklore gehalten hat. Schließlich sieht es so aus, als ob der Sadismus in der Überlieferung nur eine Nebenrolle hätte.

Wenn man die gegenwärtige Folklore in der Umgebung beobachtet, wo sie sich verbreitet, stellt es sich heraus, daß Gewalt und Grausamkeit eng zu verschiedenen Erscheinungen der Folklore gehören. So haben auch die Forscher kein Recht, dieses Thema zu vermeiden. Sind ja auch die sog. Sadistengeschichten, die in der letzten Zeit in Estland sehr populär geworden sind, ebenso ein Teil von der Folklore wie alle anderen Anekdoten. Die Bezeichnung Sadistengeschichten oder Sadistenwitze haben die Erzähler für solche Geschichten selbst ausgedacht, deren Helden und Behandlungswege durch eine besondere Brutalität charakterisiert werden. Ich entschuldige mich aber schon vorher vor diesen Leuten, für die meine Beispiele zu grausam sind.

Wie schon gesagt, hat man auf diese Art Anekdoten sehr wenig die Aufmerksamkeit gelenkt, nur einmal ist es in einem Fragebogen des Estnischen Folklorearchivs erwähnt worden, daß man solche Geschichten auch aufschreiben und sammeln sollte. Eine gründlichere Betrachtung zeigt, daß der Sadismus in allen Gattungen der gegenwärtigen Folklore vorkommt und daß er keine zufällige Beilage ist. Mein Vortrag hat das Ziel, die Erscheinungen des Sadismus in der gegenwärtigen Folklore zu behandeln. Besonders konzentriere ich mich auf die sog. Sadistengeschichten und versuche auch Gründe für deren Entstehung und Verbreitung zu finden. Ich stütze mich auf eigene Nachfragen und Aufschreibungen und auf die Angaben des Estnischen Folklorearchivs.

Der Aspekt des Sadismus ist in der Folklore eigentlich nichts Neues, sondern er begegnet schon in der älteren Überlieferung. Beispielweise in den volkstümlichen Geschichten über die Rache an den Gutsherren ist dieser Aspekt ziemlich gründlich und bildhaft behandelt worden. In den Märchen über den dummen Teufel (AT 1000-1199) verhält man sich zu dem Teufel oft sehr grausam. Einige ehemalige Motive sind auch in die heutige Zeit übertragen worden. Von Interesse ist aber eine plötzliche schnelle Verbreitung der Geschichten über den Sadismus in den letzten ein oder zwei Jahren. Die sadistischen Züge sind nicht mehr ausdrückliche Elemente, sondern sie treten als eine selbständige Erscheinung auf. Eine Geschichte oder ein Rätsel wird vor allen Dingen auf den Sadismus aufgebaut und das Ergebnis ist möglichst grausam und pervers. Eben für solche Erzeugnisse gelten auch die oben angeführten Bezeichnungen.

Woher kommen diese Geschichten? Ein wesentlicher Teil der Themen und Ideen stammen aus den Massenmedien, wie Radio, Zeitungen, Fernsehen. In der sowjetischen Zeit wurde die sog. schwarze Chronik nicht veröffentlicht und es schien, als hätten wir keine Kriminalität. Jetzt zeigt sich das andere Extrem. Es werden gründliche Schilderungen über Gewalttaten gedruckt. Sie werden mündlich weitererzählt und dienen als Grundlage für die sog. urbanen Volkssagen und Sadistengeschichten. Die Radio- und Fernsehewerbungen sind eine gute Quelle für neue Motive, sie werden umgestaltet, in die Geschichten getan und weitererzählt. Beispielsweise gibt es witzige Varianten von den OMO- und Ariel-Waschpulverwerbungen:

 Wenn ihr Ariel verwendet, befreit ihr euch von eurem Schmutz, euren Muttermalen, Warzen sowie von euren Augen.  

Außer den Werbungen, die im Volksmund umgearbeitet werden, gibt es immer mehr die sog. Schockwerbungen, in denen eine sadistische Replik als Anzieher gedacht ist. In den letzten Wochen ist in mehreren Zeitungen eine heftige Diskussion über die Normen der Ethik in der Werbung gelaufen. Der Grund für diese Diskussion ist eine Werbung für Kartoffelnchips, in der gewarnt wird: "Mutter schlägt uns tot, wenn wir nicht die Suppe essen" (Postimees 1995). In gleicher Zeit, wenn die Leute, die sich beleidigt fühlen, darüber Artikel schreiben, hat die erfinderische Jugend schon wieder etwas Neues für eine Sadistengeschichte entdeckt. Man spricht schon, was geschah, als Orbit - eine populäre Person in Sadistengeschichten, mit einer Tüte Kartoffelchipse nach Hause ging u. ä. Für viele Sadistengeschichten haben auch Horrorfilme und Romane den Inhalt gegeben. Gestalten diesen Ursprungs sind meistens in alltäglichen Situationen tätig, ihre besondere Rolle wird erst am Ende der Geschichte deutlich. Z. B. eine Anekdote über den beliebten Filmenhelden, den Batman:

 Zwei Männer sitzen in einer Bar, die sich am letzten Stock eines hundertstöckigen Hauses befindet. Sie wetten, daß der erste Mann hinunterspringt und nach dem Zusammenstoß mit dem Boden unverletzt wieder nach oben fliegt. Der erste Mann springt und alles geschieht, wie gesagt. Der zweite Mann denkt: "Wenn es so einfach ist, dann versuche ich das auch einmal," und springt auch. Aber er fällt auf den Boden und stirbt. Dann grinst der Barmeister und sagt: "Hast du aber Witze, Batman."  

Wenn wir denken, daß auch Kinder diesbezügliche Werbungen und Filme unbehindert sehen können, ist es verständlich, daß die Kinder auch entsprechende Wirkungen bekommen. Sogar Trickfilme, Spielzeuge und Computerspiele üben bei der Gestaltung ihrer sadistischen Weltanschauung einen starken Einfluß aus. Auch das Internet dient immer mehr als Verbreiter solcher Geschichten.

Warum erzählt man diese Geschichten? Natürlich gibt es mehrere Gründe. Das Erzählen jeglicher Schreckgeschichten ist eine Äußerung der menschlichen Angst. Dazu kommt der unbewußte Wunsch nach Angstgefühlen und solche Gefühle ermöglichen die Sadistengeschichten schon. Die Situationen, vor welchen man eigentlich Angst hat, werden in den Gedanken heraufbeschworen und in Geschichten ausgesprochen. Das Ende der Erzählung, sei es positiv oder negativ, wäre als eine Lösung der Situation. Die unterdrückten Ängste werden während des Erzählens zum Ausdruck gebracht und das Gefühl, daß das Schreckliche mit ir-gendejemandem anderen passierte, bringt Entspannung. Ein Ziel des Erzählens ist es die Angstreaktionen der Zuhörer hervorzurufen. Dann fühlt sich der Erzähler sicherer, er sieht, daß seine Schilderungen auch an anderen Menschen nicht so einfach vorbeigehen. Eine Studentin aus der Kulturhochschule Viljandi meinte, daß der Sadismus etwas der Menschheit Eigenes sei und auf diesem Grund werden auch die Sadistenwitze erzählt. Eine andere Studentin aus derselben Schule war der

Ansicht, daß der Mensch Angst und Schreck braucht. Da die Gesellschaft sich geändert hat, fürchtet keiner mehr die Gespenster, und statt früheren Gespenstergeschichten sind Sadistengeschichten entstanden. Also spiegeln diese Geschichten auch das Menschenbewußtsein wider. Von A. Bundes stammt der Ausdruck: "Wenn etwas krank ist, dann ist krank die Gesellschaft, wo sich solcher Humor verbreitet" (Dundes 1979, 155). Auch einen Gedanken von B. Holbeck kann man so zusammenfassen:

Wenn Wirksamkeit und Lachen über Witze mit der Stärke des im Witz gebrochenen gesellschaftlichen Tabus zunimmt, verweist das auf einen tiefgehenden moralischen Rückgang in der Gesellschaft hin (Holbek 1974, 45 ff.). Einer der einfachsten Gründen zur Entstehung der Sadistengeschichten ist die Tatsache, daß man immer nach neuen und interessanten Erzählstoffen sucht. Die schon gehörten Anekdoten mit ihrem bekannten Themenkreis werden langweilig und man führt immer extremere Themen ein. Ich bat mehrere Jugendlichen, die Meinung darüber zu äußern, warum die Sadistenwitze plötzlich so populär geworden sind. Die Mehrheit der Gefragten meinte, daß die Kinder immer aggressiver werden und auf diesem Grund wird auch die gegenwärtige Folklore immer grausamer. Die Sadistengeschichten verbreiten sich am meisten eben unter den Studenten und Mittelschulabgänger.

Eine wichtige Bedeutung hat in der gegenwärtigen Folklore das Rachemotiv. Beispielweise ist weit verbreitet die urbane Volkssage, in der die vergewaltigte Frau ihre Peiniger kastriert. Es wird ersichtlich, daß man in unserer, mit Gesetzen geordneter Welt doch Selbstjustiz braucht, oft kann man aber diese Wünsche nur in Erzählungen verwirklichen. Wir identifizieren uns oft mit dem Rache- oder Selbstjustiz Übenden und halten die Strafe, die den oder die Übeltäter ereilt, für gerecht. Schon das Erzählen von Rachegeschichten stellt eine sozial anerkannte Form der Entlastung von diesen Gefühlen dar (vgl. Brednich 1994,18). Dieser Modus, sich gegen das Unrecht zu äußern, ruft widersprüchliche Meinungen hervor. Einerseits wäre erwartungsgemäß, daß der Mensch, der seine Emotionen im Erzählen zum Ausdruck bringt, das nicht mehr in der Tat macht. Andererseits erhebt sich die Frage, ob dieses Erzählen so ganz gefahrlos ist. Es sieht so aus, als gäbe das Erzählen und Weitererzählen dieser Schreckgeschichten ein moralisches Recht zum Sadismus gegen Gewalttäter. Der Sadismus scheint in Geschichten und Filmen so alltäglich und findet so einfach und spielerisch statt, daß es zur Gefahrbringt, in der Wirklichkeit eine gewisse ethische Grenze zu übergehen, bis die Gewalt eine Lebensnorm wird.

Von wem wird in Sadistengeschichten erzählt? Wenn in den Geschichten unmenschlich grausame Taten begegnen, werden sie den Sadisten, Maniaken, Verrückten oder Vampiren zugeschrieben. Am häufigsten handeln die Geschichten sich um das Leben eines Sadisten, der nicht genauer bestimmt wird. Die Bezeichnung Sadist hat hier eher ein allgemeineres Bedeutungsfeld. Beispielsweise eine Sadisten-geschichte über den Sadisten, der an der Küste spaziert.

 Der Sadist sieht einen Jungen, der die Vögel beobachtet. Er fragt, ob der Junge mit einem Binokel gucken möchte. Der Junge ist einverstanden. Dann nimmt der Sadist zwei Gabeln aus der Tasche und sticht sie in die Augen des Jungen. Der Junge klagt, daß er jetzt nichts mehr sieht. "Ahaa," sagt der Sadist: "Das heißt, man muß regulieren," und er dreht die Gabeln in den Augen.  

Die Vampire - auch populäre Figuren in den Sadistengeschichten, sind literarischen Ursprungs. Durch das Fernsehen kam in die Sadistengeschichten der Vampire Dracula. Dracula war ein grausamer Herrscher im 15. Jahrhundert. Als Vampir wurde er erst in einem Roman eines irischen Schriftstellers dargestellt (Oinas 1991,135). Der Film, der über dieses Buch gedreht wurde, brachte Dracula auch nach Estland. Aber schon über den historischen Dracula gibt es Angaben, daß er die Mützen seiner unhöflichen Gäste mit Nägeln an ihre Köpfe befestigt habe. Das ist das Motiv, das in den gegenwärtigen Sadistengeschichten sehr oft vorkommt. Die populärste Geschichte, in der dieses Motiv begegnet, ist bei den Esten sowie den Russen bekannt:

 Der Sadist geht treppab und hält ein Kind am Bein fest. Der Kopf des Kindes schlägt heftig gegen die Treppe. Die Leute gucken zu, aber niemand hat den Mut, etwas zu sagen. Endlich lenkt jemand die Aufmerksamkeit des Sadisten darauf, daß so die Mütze des Kindes verlorengehen kann. Dann grinst der Sadist und sagt: "Mach dir keine Sorgen, die Mütze ist mit dem Nagel an den Kopf befestigt."  

Die kleinen Kinder sind oft die Opfer in den Sadistengeschichten, mal werden sie mit der Waschmaschine gewaschen, mal vergast, mal mit kochendem Wasser gespült.

In mehreren Geschichten werden die Opfer mit Namen genannt, aber der Kreis der Namen ist ziemlich klein. Am öftesten kommen die Namen Orbit, Lennart und Juku vor, in Nordostestland, in den Witzen der russischen Bevölkerung begegnet noch Vovka, der dort auch in anderen Anekdoten auftritt. Die Anekdoten über Orbit (in einigen Fällen auch Orbik) wurden vor etwa zwei Jahren bekannt. Die Vorbilder sind in Finnland zu suchen, wo es schon vor etwa 10 Jahren Anekdoten über Orbit gab. Orbit ist ein kleiner Junge, der keine Hände und keine Beine hat, manchmal werden ihm noch andere Behinderungen zugeschrieben. Laut einigen Angaben wäre er eine wirklich existierende Person, zwar körperlich gesund, aber sonst mit einem eigenartigen Aussehen. Als Vorbild für den Namen Orbit kommt auch eine weit bekannte Kaugummi-Werbung in Betracht, obwohl diese Werbung selbst keine Hinweise auf den Sadismus enthält. In den Geschichten über Orbit wird eine detaillierte Beschreibung für wichtig gehalten: Man erzählt über das Äußeres von Orbit, über seine Probleme und über die Verhältnisse zwischen Orbit und seinen Mitmenschen. Der Inhalt vieler Sadistenwitze ist das Kommen des Weihnachtsmannes in Orbits Familie.

 Der Weihnachtsmann kommt, alle lesen Gedichte und bekommen Geschenke. Orbit fragt: "Was soll ich machen, um ein Geschenk zu bekommen, ich kann ja nichts." Die Eltern trösten ihn: "Aber du sollst Blut spucken. Blut spucken kannst du ja." Orbit spuckt, bis es ihm ganz schlecht wird und bekommt ein Geschenk. Da er keine Hände und keine Beine hat, fällt es ihm schwer, die Packung zu öffnen. Endlich glückt es ihm, er öffnet das Geschenk und wird sehr traurig, weil er dort einen Springseil findet.  

Laut einigen Sadistengeschichten ist Orbit auch blind. Beispielsweise wird er am Ufer eines Flusses dargestellt, wo er mit einer Mundharmonika spielt. Plötzlich fällt die Mundharmonika in den Fluß und Orbit fängt an zu weinen. Der Sadist geht vorbei, gibt ihn eine Rasierklinge und sagt: "Hier habe ich für dich eine neue Mundharmonika." Orbit steckt das neue Spielzeug in den Mund und siehst du, er spielt weiter und sein Lächeln wird immer breiter und breiter.

Der Inhalt dieser Geschichte ist in Estland schon etwa zehn Jahre bekannt, aber Orbit als Opfer des Sadisten begegnet Gewalttäter selbst.

Beispielsweise geht es in einer Sadistenanekdote darum, daß die Kinder am ersten April ihrer Mutter Spaß machen wollen.

 Die Mutter kommt nach Hause und Orbit schreit: "Mutter, wir hängten Vater im Keller!" Die Mutter läuft in den Keller. Orbit schreit ihr nach: "April! April! Wir hängten Vater nicht im Keller, sondern in der Dachkammer!"  

Oft kommen in einer Geschichte gleichzeitig der Sadist und der Maso-chist vor. Da der Sadist das Gegenteil des Masochisten ist, wird seine Grausamkeit in diesem Kontext besonders deutlich. Am öftesten werden die beiden im Gefängnis dargestellt.

 Einmal ist es dem Masochisten langweilig, er schneidet langsam seine Fingerspitzen ab und wirft vom Fenster hinaus. Der Sadist sieht zu und kommentiert: "Sonst bist du kein richtiger Kerl, aber mir gefällt die Art, wie du aus dem Gefängnis fliehst."  

Was die Verrückten oder Geisteskranken anbelangt, so befanden sie sich früher oft in lustigen Anekdoten, wo ihre Dummheit, aber auch ihre eigenartige Erfindungsgabe beschrieben wurden. Jetzt kommen sie aber immer mehr in Sadistengeschichten vor. Wenn man von psychisch gesunden Leuten erzählt, muß der Erzähler seine Phantasie doch in gewissem Maße zügeln, er kann die gewöhnliche Menschen nicht in allmöglichen Rollen und Situationen darstellen. Wenn es aber um die Verrückten geht, können ihnen auch solche Taten zugeschrieben werden, die bei normalen Leuten unlogisch wären. Z. B. erzählt man, wie die Verrückten eine Frau vergewaltigten. Nachher wollten sie wissen, ob die Frau auch schwanger wurde oder nicht. Sie entschieden, die Frau mit einer Axt zu zerspalten, um der Frage die Antwort zu bekommen. In einer anderen Variante ist die Motivation der Verrückten zu erfahren, ob eine Tochter oder ein Sohn geboren wird.

In den USA werden viele unreale Grausamkeiten mit dem Namen Willie verbunden. Willie wird als ein kleiner Junge dargestellt. Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts wurde ein Lied aufgeschrieben, dessen Inhalt der vorher gebrachten Sadistengeschichte ähnelt:

 Willie zersplitterte den Kopf des Kindes  
 um zu sehen, ist das Gehirn grau oder rot.  
 Mutter, davon gestört, sagte zu Vater  
 "Diese Kinder, die sind eine schreckliche Last!"  
 Willie split the baby's head  
 To see if brains were gray or red.  
 Mother, troubled, said to father,  
 "Children are an awful bother!"  
 (Dundes1979,148)  

In Europa (darunter in Estland) und in den USA ist die Geschichte von einem geflohenen Verrückten bekannt.

Ein Liebespaar fährt Auto und hört von Radio die Nachricht, daß ein Verrückter geflohen sei. Der Mann steigt kurzmal aus, aber kommt nicht mehr zurück. Außerdem hört die Frau ein seltsames Klopfen auf dem Dach des Autos. Endlich wird der Grund des Klopfens klar, vom Dach des Autos springt der vorher erwähnte Verrückte hinunter, hält den abgeschnittenen Kopf des Mannes fest und schlägt damit immer und wieder gegen das Auto.

Die Sadistenwitze handeln auch um einige Berufe. Am meisten erzählt man von der Arbeit des Arztes und des Henkers. Z. B. in einem Witz kommt der Henker zum Abendbrot. Sein kleiner Sohn sieht, daß sich der große Sack, den der Vater mitgebracht hat, in der Ecke bewegt. Er fragt, was in dem Sack sei. Der Henker sagt: "Ich nahm bloß etwas Arbeit nach Hause mit." In vielen Sadistengeschichten wird über das Abstumpfen der Ärzte während der langen Arbeitszeit erzählt, wie gleichgültig sie ihre Patienten behandeln und was sie während der schweren Operationen vornehmen.

 Ein Mann geht zum Arzt. Er hat ein Messer in seiner Brust und blutet schrecklich. Er bittet den Arzt um Hilfe. Der Arzt nimmt das Messer heraus und sticht ihm ins Auge. Selbst der Arzt sagt: "Meine Arbeitszeit ist zu Ende, gehe zum Augenarzt."  
Erwartungsgemäß ist eine populäre Person in den Sadistengeschichten die Schwiegermutter. Sie hat schon in älteren Volkserzählungen und Witzen eine besondere Rolle, wo sie meistens in negativem Licht dargestellt wird. Heute kennen die Esten eine Sadistengeschichte über die Schwiegermutter, die an Pilzenvergiftung stirbt. Der Arzt fragt, was die dunklen Flecken am Hals der Schwiegermutter bedeuten sollen, und bekommt zur Antwort: "Am Anfang wollte sie die Pilze nicht essen." In dieser Geschichte treten manchmal auch Winnie Pooh und seine Freunde auf.

In einigen Fällen wird die Schwiegermutter auf den ersten Blick pfleghaft und behutsam behandelt. Beispielsweise geht ein eleganter Mann in einen Laden wo er für seine Schwiegermutter ein passendes Geschenk kaufen will. Die freundliche Verkäuferin bietet ihm einen elektrischen Kamm, einen elektrischen Haaretrockner, einen elektrischen Mixer an, aber der Mann schüttelt den Kopf und sagt: "Nein, das ist nicht das richtige. Haben sie vielleicht einen elektrischen Stuhl?" Die zwei letztgemeinten Sadistenwitze sind auch unter der russischen Bevölkerung Estlands bekannt.

In mehreren Sadistengeschichten begegnen Tiere. Manchmal sind die Tiere antropomorphisiert, z. B. das Krokodil Genaund Tscheburaska, der einem Affen ähnelt. Sie stammen aus der russischen Literatur und sind auch in anderen Anekdoten populäre Gestalten. Meistens sind die Tiere in den Sadistengeschichten jedoch in der Opferrolle.

 Ein Nachbar fragt den anderen: "Warum schreit deine Katze oft so schrecklich?" - "Weil wir sie waschen," wird erwidert. "Wir waschen unsere Katze auch," sagt der erste: "aber so schrecklich schreit sie doch nicht." "Naja," sagt der erste: "beim Waschen schreit auch unsere Katze nicht, um so mehr aber beim Wringen und Bügeln."  

Manchmal versucht man, den Sadisten zu einem ordentlichen Menschen umzuziehen, aber er findet immer den Ausweg, wie er sich selbst bleiben kann. Beispielsweise wird erzählt, wie die Gäste in eine Stadt kommen. Alles ist schön vorbereitet, nur das Benehmen des Sadisten ist ein Problem. Er wird gebeten, endlich mal höflich zu sein und mit den Gästen z. B. über das Wetter zu sprechen. Der Sadist bleibt mit den Gästen allein, gibt einem Hund mit seinem Fuß einen starken Schlag und grinst: "Der Hund fliegt niedrig, das bedeutet, es wird den Regen geben." Das ist eine Parodie zu einer alten Volksweisheit, die besagt, daß es Regen geben wird, wenn die Vögel niedrig fliegen.

Rassistische Sadistenanekdoten und -ratsel gibt es in Estland ziemlich wenig, aber sie erwecken doch das Interesse. Offensichtlich sind sie ausländischen Ursprungs. In den rassistischen Anekdoten wird der Neger möglichst minderwertig gemacht, es wird hervorgehoben, daß ein weißer Mensch einen Neger so behandeln darf, wie er nur will. Z. B. fragt man:

 Was für Unterschied gibt es zwischen einem Neger und einer Zwiebel? Wenn man eine Zwiebel schneidet, kommen einem die Tränen in die Augen.  

Einigermaßen kommen in so gerichteten Sujets auch die Russen vor. Man kann vermuten, daß Sadistenwitze hauptsächlich aus den USA stammen. A. Dundes (Dundes 1979, 153) hat amerikanische Anekdoten aus dem sog. Zyklus des toten Babys erforscht und unterstrichen, daß solche Anekdoten, die eine besonders sadistische Lösung haben, auf die Neger-(und farbigen) kinder bezogen sind. Nach R. Albrecht (Albrecht 1982, 229) war eine Welle der Sadistengeschichten dieser Richtung in Deutschland 1981-1982. Diese Geschichten handelten vor allem um die Juden und Türken. Frühere deutsche Parallelen stammen schon von dreißiger Jahren und sie sind mit damaligen politischen Verhältnissen verbunden. Albrecht (1982,221) meint, bei den rassistischen Anekdoten handelt es sich nicht bloß um anscheinend in jeder bürgerlichen Gesellschaft vorfindliche aggressive Witze über ethnische Minderheiten, sondern um witzig gemeinte mündliche Kommunikate, die in ihrem gesellschaftlichen Ausblick weiter gehen als bloße Minderheitswitze (Albrecht 1982, 221).

In einem kleineren Teil der estnischen Sadistengeschichten ist die Rede von den deutschen Kontzentrationslagern. Ihre Thematik stammt aus dem realen Leben, wird in Sadistenwitzen aber bis zur Groteske entwickelt.

 Der Wächter des Lagers wiegt die Gefangenen ab. Der Zeiger der Waage zeigt 80 Kilo. "Ihr seid fett geworden," schimpft der Wächter: "Okei, die nächsten fünf Personen auf die Waage!"  

Viele Menschen haben Sadistengeschichten gehört, aber nur wenige erzählen sie weiter. Auch die Funktion des Erzählens ist in verschiedenen Fällen unterschiedlich und hängt von der konkreten Erzählsituation ab. In einer männlichen Gesellschaft werden Sadistengeschichten eher in der Funktion eines Witzes erzählt. In der Gesellschaft der Frauen wird aber eben der Sadismus betont und Reaktionen, die Schreck und Ekel äußern, sind erwartet. Ein Student aus der Kulturhochschule Viljandi meinte, daß die russischen Sadistenwitze im Vergleich zu den estnischen grausamer sind. Er vermutete, daß der Grund dafür eine mehr sadistische Weltanschauung der Russen wäre. Eigentlich zeigt sich schon in der älteren russischen Überlieferung die Tendenz, in den Sadismus zu geraten. Ein beeindrucksvolles Beispiel wäre ein populäres mythologisches Wesen in der russischer Folklore, die Baba-Jaga. Ein Vergleich zeigt, daß die Sadistenwitze der russischen gegenwärtigen Folklore einfacher und kürzer sind als die der Esten. Während die estnischen Sadistengeschichten oft schwarze Humor enthalten, ist in den russischen Sujet die Puante meist der Sadismus selbst. Leider beschränkt sich das russische Material, das mir zur Verfügung steht, nur auf das, was von den russischen Bevölkerung Estlands stammt.

Es scheint, daß die Welle der sadistischen Anekdoten in Westeuropa und in den USA wesentlich früher stattgefunden hat als in Estland. In den USA waren vor etwa 15 Jahre solche Typen der Sadistengeschichten verbreitet, die jetzt in Estland bekannt sind. Nach Meinung von A. Dun-des (Dundes 1979, 153) war die Blütezeit der sadistischen Witze aus dem sog. Zyklus des toten Babys in Amerika in den 60.-70. Jahren. Einige Sujets sind auch in Estland schon früher aufgeschrieben worden. Z. B. Manipulationen auf dem Thema "Gute und schlechte Nachrichten" sind in Estland während zehn Jahre bekannt gewesen. In den USA ist im Jahre 1978 die nächste Geschichte aufgeschrieben worden, deren Inhalt auch den Esten bekannt ist:

 Man vermutet, daß ein Mann den Krebs im Hoden hat und operiert werden muß. Der Patient wird nach der Operation wach und fragt den Arzt, ob die Operation gut gelungen ist. Der Arzt sagt: "Ich habe für Sie eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, daß Ihnen aus Versehen die beiden Hoden abgeschnitten wurden, die gute Nachricht ist, daß Sie doch in Wirklichkeit keinen Krebs hatten (Dundes 1979, 149).  

In Estland sowie in den USA (Dundes 1979, 149) kann die Rede statt den Hoden auch von den Beinen sein.

Der Volksmund kennt ziemlich viele grausame Beschreibungen des Kasernenlebens und der Schlachten z. B. im afghanischen Krieg. Diese Geschichten stammen von den estnischen Soldaten, die das alles in der Sowjetarmee selbst erlebt haben. Im Laufe des Erzählens machen die Beschreibungen viele Änderungen durch und werden oft urbane Volkssagen. In den urbanen Volkssagen ist der Sadismus meistens einer unter den anderen Kuriositäten, das ist eine Möglichkeit, die Leute zu irritieren. Es wird von geschundenen und zerstückelten Leichen erzählt (Brunvand 1984, 69) oder jemand wird zu Tode gefoltert oder gelynct.

Wenn man die anderen Gattungen der Folklore berücksichtigt, dann findet man den Sadismus auch in Liedern. Es gibt einige Lieder, die schon vor etwa 10 Jahren in Jugendgruppen geschaffen wurden und die bis heute gern gesungen werden. Es scheint, als wäre das Ziel dieser Lieder, besondere Brutalität und Grausamkeit auszudrücken. Um einen stärkeren Einfluß auszuüben, benutzt man das Prinzip der Kontraste — zu einer schönen Melodie werden besonders ekelhafte Worte geschaffen. Manchmal wird ein gutes Liebeslied in solcher Weise umgearbeitet. Der Sadismus hat eine wesentliche Rolle auch in speziellen kurzen Liedern und Gedichten, die meist russischsprachig geläufig sind. Die Leute, die nach dem Ursprung dieser Liedchen gefragt wurden, meinten, daß sie aus der sowjetischen Armee stammen. Selbstverständlich hat die Mehrzahl solcher Lieder einen militaristischen Inhalt. Z. B.

 Der kleine Junge fand ein Maschinengewehr  
 Jetzt lebt im Dorf keiner mehr  
 Malenkij maltschik naschjol pulemjot,  
 teper v derevnje nikto ne zhvjot.  

Ähnliche kurze Liedchen mit 2-4 Zeilen waren in den USA schon am Ende des letzten Jahrhunderts bekannt. Es gab im Volksmund eine Reihe Gedichte, die zu dem sog. Zyklus des toten Babys gehörten und in welchen die bekannteste Gestalt der kleine Willie (Billy) war. Es ist möglich, daß manche solche Gedichte nämlich in den USA entstanden sind und sich dann nach Rußland verbreitet haben, wo sie in die russische Sprache übersetzt wurden. In russischen Liedchen gleichen Inhalts kommt am häufigsten malenkij maltschik- 'der kleine Junge' vor.

Die Rätsel sind ein Genre, das zum Behandeln der sadistischen Themen unbegrenzte Möglichkeiten anbietet. Es gibt eine Reihe Witze, die als Rätsel aufgebaut sind. Kennzeichnend ist die Frage "Was?" am Anfang des Rätsels. Das Verbreitungsgebiet solcher Rätsel ist sehr groß, sie sind in Amerika sowie in Skandinavien und in Estland bekannt. Ein paar Beispiele:

 Was ist schwarz, abgerissen und fliegt? - Eine Nonne, die auf eine Mine gestoßen ist. - Mis on musta, repaleinenja lentää? Miinaan astunut nunna (Lipponen 1995, 205).  

Aus Amerika stammen Texte ebenso häßlichen Inhalts:

 Was ist blau und sitzt in einer Ecke? - Ein Baby in einer Plastiktüte. — What is blue and sits in a comer? —A baby in apiastic bag.  

In einigen in Estland gelaufigen Sadistenratzeln begegnet eine estnischfinnische Mischsprache, die auf den finnischen Urspmng hinweist

 Was ist das, hinter dem Fenster, schwarz und kratzt? - Ein Neger im Mikrowelleofen - Mis see on? Akna taga must ja kriibib?- Neeger mikrouunis (mikrouuni ist das finnische Wort fur den Mikrowelleofen)  

Die Frage kann auch anders gestellt werden Der Gefragte muß raten, wie es besser ware, eine gewisse Arbeit zu machen, beispielsweise wird gefragt Was ist einfacher, Flaschen oder Babys auf einen Wagen zu laden - Mit den Babys ist es einfacher, weil dann kann man dazu eine Heugabel gebrauchen Einige solche Ratsel sind in Estland schon vor etwa 10 Jahren aufgeschrieben worden, in den letzten Monaten sind sie aber intensiver gesprochen worden Die Menschenfresser sind populare Personen in Sadistengeschichten sowie in Sadistenratsein Sie begegnen auch in der gegenwartigen Folklore der anderen Volker In der Geschichte, die in Estland am bekanntesten ist, weint die Tochter des Menschenfressers "Ich will meinen kleinen Bruder nicht, ich mag ihn einfach nicht'" Endlich wird ihre Mutter bose und sagt "Hor auf, in unserer Familie ißt man, was es gibt" In der amerikanischen, finnischen sowie estnischen gegenwartigen Folklore gibt es interessante Ratsei, in denen Menschenfresservorkommen, z B:

 Was sagt der Menschenfresser nach der Mahlzeit? - Er sagt, daß war ein sehr guter Mensch Oder ein finnisches Beispiel aus dem Buch von U Lipponen  

 Was bekommt der Menschenfresser, wenn er zu spat zum Abendbrot kommt? - Er bekommt eine kalte Hand - Mita ihmissyoja sai myo-hastyttyaan illalliselta? - Kylmaa katta (Lipponen 1995, 109)  

Schließlich gebe ich noch eine Beschreibung eines Spieles Das ist wahrscheinlich ein Erbe aus dieser Zeit, als es in Estland noch Pionierlager gab, deren ubertriebene Organisierung und Ordnung allen bekannt war.

Also ist diese Beschreibung 10-15 Jahre alt. Nach der Meinung des Erzählers, der selbst ein Theologe ist, wäre dieses Spiel in seiner Zeit am beliebtesten gewesen:

 Ein Stück Land ist mit einem drei Meter hohen Zaun umgeben. Eine Gruppe Pioniere gehen hinein. Dann fährt ihr Leiter mit einem Panzerwagen auch hinein und das Tor wird abgeschlossen. Der Sieger ist dieser Pionier, der zuletzt im Leben bleibt.  
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Zusammenfassend kann man sagen, daß der Sadismus in der gegenwärtigen Folklore sogar zu beliebt ist, er begegnet in allen Gattungen. Obwohl man die Sadistengeschichten für eine selbständige Erscheinung in der Folklore halten kann, stammen ihre Helden meistens aus den anderen Anekdoten und aus der Literatur. Die Eigenart der Sadistengeschichten ist der hand- und beinlose Junge Orbit, der Orbit-Zyklus ist offensichtlich größtenteils auch in Estland entstanden. Es gibt jedoch Angaben, daß der Name Orbit vor etwa 10 Jahre auch in finnischen Anekdoten vorkam. Was die anderen Vorbilder der Sadistengeschichten anbelangt, sind sie in Osten sowie in Westen zu finden. Wenn man direkte Einflüsse sucht, kommt Rußland in Betracht, darauf weisen auch viele russischsprachige Wendungen in den estnischen Sadistengeschichten hin. Man kann aber vermuten, daß viele mit dem Sadismus verbundene Folkloreerscheinungen aus den USA stammen, wie z. B. die kurzen sadistischen Liedchen und rassistische Anekdoten. Die Sadistengeschichten und sonst mit dem Sadismus verbundene Überlieferung wird hauptsächlich von den Studenten und Schulabgänger verbreitet, aber es gibt Erzähler auch unter den Kindern und älteren Menschen. Die große Welle der Sadistengeschichten begann in den letzten Monaten und zeigt bis jetzt kein Ende.

Es erhebt sich die Frage, wenn jetzt in der Folklore der Sadismus besprochen wird und damit verbundene Geschichten schon alle ethische Grenzen übertreten, was ist dann der nächste Schritt? Sozusagen, wohin kann die gegenwärtige Folklore überhaupt noch gehen?

Literatur:

AT = Aarne, A. & Thompson, S. 1961: The Types of The Folktale. FF Communications 184, Helsinki.

Albrecht, R. 1982: Was ist der Unterschied zwischen Türken und Juden.

Zeitschrift für Volkskunde. 2. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz.

Brunvand, J. H. 1984: The Choking Doberman. New York, London.

Brednich, R. W. 1994: Sagenhafte Geschichten von heute. München.

Dundes, A. 1979: The Dead Baby Cycle. Western Folklore. 3. California.

Holbek, B. 1974: The Ethnic Joke in Denmark Unifol. Arsbererning 1974. Kobenhavn, 1975.

Lipponen, U. 1995: Jauhot suuhun. Helsinki.

Oinas, F. J. 1991: Ida-Euroopa vampiirid. Keelja Kirjandus, Nr. 3. Postimees 1995: 13. 10.