MIT ANGST UND SCHRECKEN VER-BUNDENE SPIELE IN DER GEGEN-WARTIGEN ESTNISCHEN KINDER-FOLKLORE

Irje Karjus. Antsia

Zu den interessanteren Au Berungen der gegenwärtigen Kinderfolklore gehören Schaudergeschichten und denen sehr naheliegende Spiele. Die Schaudergeschichten der Kinder können in den Spielen zum Ausdruck kommen. Ein so erhaltenes Angsterlebnis ist viel starker und intensiver als in der Geschichte. Ein Spielerlebnis ist spannend, eindrucksvoll und mitreibend. Das ist in seiner Art ein " Nervenkitzel", was fur einen Augen-blick die reale Welt vergessen läbt.

In Schaudergeschichten hat nur der Erzähler das Recht, die folgende Handlung zu richten. Das Erzählen ruft im Leser Phantasiebilder hervor. In seinem Geistesauge stellt er sich die Tätigkeit oder die Handlung vor, er beteiligt sich daran aber nicht aktiv und schöpferisch. Um regere Emotionen zu bekommen, sucht das Kind den Ausdruck in der Aktivität. So entstehen Spiele, in denen die Improvisation des Kindes die wichtigste Rolle hat. Das im Spiel eriebte Angsterlebnis kann später als ein Witz betrachtet werden, worüber man gemeinsam gut amüsieren kann und worauf man sich gerne besinnt. Das schliest aber nicht aus, das die Angst während des Spieles wirklich und unmittelbar ist.

Meiner Untersuchung nach teile ich die mit der Angst verbundenen Kinderspiele in drei Hauptgruppen:

l. ROLLENSPIELE

a) Rollenspiele, in denen ein ganz bestimmtes Geschehnis vom realen Leben durchgespielt wird (auf Grund einer Erzählung des N.).

So, wie es in der Welt der Erwachsenen die Bosheit gibt, spiegelt sie sich auch in den Spielen der Kinder wider. Diese geheimnisvolle Welt, die für die Kinder entweder unerreichbar ist oder von der die Erwachsenen sie fernhalten wollen, verwirklicht sich in den Spielen.

 Mörder  
 Es werden Lose gelost. Entsprechend der Anzahl der Spieler gibt es Rollen - Mörder, Polizei, Untersuchungsrichter, Richter, usw., die aufgetragen werden. Die Person des Mörders bleibt geheim. Das Licht wird ausgemacht, alle gehen im Zimmer auf und ab. Der Mörder klopft jemandem dreimal auf den Schulter, derjenige "stirbt". Der Richter untersucht den Fall, es wird gerichtet. (RKM, KP 60, 41 < Tartu - Irje Karjus < Mädchen, 20 J. (1994))  

Es können auch die Rollen der übernatürlichen Wesen vorkommen, z. B.

Scheuchen, Ungeheuer u.a., dabei auch Tiere (Scheuchen).

 Angst der Kindheit  
 Gewöhnlich spielen wir in der Nacht mit Jungs Scheuchen und mutige Männer. Als ich einmal der mutige Mann war, ging ich in einen stockdunklen Ort. Von vorne, hinten, von links und rechts kamen Scheuchen. Ich war umringt, als ich auf die Idee kam, daß sie mich auffressen können. Ich versuchte wegzulaufen, aber es gelang mir nicht. Diese Scheuchen spielten Jungen unserer Straße. Am Ende kamen auch die anderen mutigen Männer an, die Scheuchen fingen an, sie anzufassen und so wurde auch ich frei. (Kristo Jaanimägi, 4. a Klasse)  
 An einem Winterabend spielten wir. daß Caspar ein Krokodil war, ich und Auringo waren Menschen. Wir spielten dieses Spiel in einem Grab. Das Krokodil wurde so gemacht, daß Zweige als Maul des Krokodils dienten. Auringo jagte uns, dann begann ich zu fürchten, daß er ein echtes Krokodil ist. Wir spielten im Grab, damit der Weg wie ein Rohr wäre. Aber dann tauschten wir die Rollen und ich war das Krokodil. Ich hatte dann keine Angst mehr. Als Auringo daran war und die Hälfte des Spiels stets vorbei war, rief die Mutter mich hinein und die Freunde gingen auch nach Hause. Am nächsten Tag kamen die Freunde zusammen und wir beschlossen, Versteck zu spielen. In diesem Spiel brauchten wir nichts zu fürchten, weil es da keine Ungeheuer gab und ich spiele nicht mehr mit Ungeheuern. Mein Hauptspiel ist das Versteckspiel und es gefällt mir. (Allan, 5. a Klasse)  

In diesen Spielen haben die Beteiligten den freien Willen. Jeder schafft eine Rolle, und je wahrheitsgetreuer er das macht, desto spannender wird der weitere Spielverlauf. Meistens sind solche auf der Spannung basierende angstverbundene Spiele mit dem sog. offenem Inhalt, obwohl die hauptsächliche Handlung in allgemeinen unverändert bleibt. Jeder hat die Möglichkeit, seiner Phantasie nach dem Spielverlauf zu führen, und alle folgen ihm mit Spannung.

b) Kampf- und Verfolgungsspiele

Auch diese Spiele sind der Meinung der Kinder nach im größten Teil mit dem Angstgefühl verbunden. Dazu gehören Kriegs- u.a. Kampfspiele, wobei die Kinder sich so einleben, daß sie die Realität vergessen.

 Kriegsspiel  
 Einmal spielte ich das Kriegsspiel. So spielend kriegte ich plötzlich Angst, als ob alle Jungen echte Gewehre und echte Kugeln hätten. Ich versteckte mich ganz gut, aber ein Junge kam von hinten und verletzte mich am Bein. Ich fühlte, als wäre mir eine echte Kugel im Bein, und ich versuchte nicht zu flüchten. Ich wußte, daß es mir weh tun würde. Ich wartete auf das Ende, auf den Schuß ins Herz, aber da stellte es sich heraus, daß er einer aus unserer Schar war, der zur Aufklärung geschickt worden war. (Tõnis Viira)  

Die Kinder empfinden Schmerz, weil sie wissen, daß es in der Wirklichkeit so sein muß.

 Meine Angst  
 Ich war mit einem Freund im Wald und wir kämpften mit Holzdegens. Dann fühlte ich Schüttelfrost und dachte, daß es ein echter Kampf sein kann und ich jetzt meinen besten Freund mit dem Degen totsteche. Es geschah im Sommer vorigen Jahres, der Johannistag war schon vorbei. Ich fürchtete, daß einer von uns niedergeschlagen wird. Das Spielprinzip war, den Gegner zu verletzen. Er siegte, aber später sagte er mir, daß er auch so, wie ich in gleicher Zeit gefühlt hatte, und daß er auch Schüttelfrost gefühlt hatte. (Ranto Viilup)  
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Oft vergißt man, daß es bloß um ein Spiel handelt und, begeistert von Jagdgier oder sich mit irgendeinem Film- oder Romanhelden identifizierend, kann es oft vorkommen, daß man dem Mitspieler weh tut.

c) Allgemein bekannte Spiele, wie das Versteckspiel, das Blindekuhspiel, die man im Dunklen spielt.

Die Dunkelheit ist hier der wichtigste Faktor. In den Spielen, wo üblicherweise die Spannung als Hauptgefühl vorkommt, verursacht eben die Dunkelheit in den Kindern die Angst.

 Die Angst meiner Kindheit  
 Die Angst meiner Kindheit war die Dunkelheit. Wenn wir das Versteck spielten und ich mich verstecken mußte, verbarg ich mich hinter dem Bett meiner Eltern. Ich hatte das Gefühl, als wäre unter dem Bett eine Scheuche oder ein Gespenst oder sogar ein Gerippe. Es war ziemlich unbehaglich, allein im dunklen Zimmer zu sein.  
 Als ich entdeckt wurde, hatte ich dieses schreckliche Gefühl nicht mehr. Wieder hatte man jemanden früher als mich entdeckt und ich mußte mich wieder verstecken. Diesmal ging ich nicht in das Zimmer von meinen Eltern, sondern in das Badezimmer. Im Bad war es auch dunkel und als ich da stand, hatte ich dasselbe Gefühl wie vorher im Zimmer von Mutter und Vater. Ich versteckte mich hinter den hängenden Kleidern. Jetzt hatte ich ein anderes Gefühl. Ich hatte das Gefühl, als ob beträte ein Außerirdischer das Bad. Die Tür öffnete sich, das Licht wurde angemacht und jemand kam herein. Ich dachte, ich mache in die Hose. Ich konnte nicht ahnen, daß es vielleicht Mutter war. Die Mutter sah mich nicht und ich dachte vor mich hin, daß ich den Außerirdischen loswurde. Wieder wurde jemand vor mir gefunden. Ich wollte so sehr der Sucher sein, aber es gelang mir nicht. Jetzt versteckte ich mich sehr einfach und ich hatte Glück. Das Zimmer war beleuchtet, ich hatte keine Angst und wurde auch als erster gefunden. Mein Wunsch erfüllte sich, ich konnte der Sucher sein. Erst fand ich meinen Bruder und dann andere Freunde. (Geili Niklus,5.a Klasse)  

Bei solchen Spielen ist die Tätigkeit jedes Spielers gewöhnlich vorausgesetzt. Allein in der Finsternis, leicht beeinflußbar, stellen die Kinder sich Ungeheuer u. ä. vor, was mit ihnen im Alleinsein passieren könnte. Das Kind fantasiert und ist glücklich, wenn das Spiel zu Ende geht, dabei ist es aber bereit, gleich das neue Spiel anzufangen.

2. SITUATIONSPIELE

Situationspiele basieren auf konkreten Situationen. Sie sind improvisiert und ohne vorgeschriebene Rollen und Handlungen. Sie entstehen unmittelbar, bedingt von einer Erscheinung, Zeit, von einem Menschen, Tier, Ort usw. Zu einem gemeinsamen Angstobjekt kann z.B. ein tiefes Loch, ein Kellerraum u.ä. werden.

 Einmal rief meine Freundin mich hinaus. Ich war damit einverstanden, und wir gingen in den Buddelkasten vor dem Haus. Auf dem Hof gab ein Junge mir einen Bonbon. Kristi, meine Freundin sagte: "Gestern stand es in der Zeitung, daß auf unser Land ein sehr großes haariges Ungeheuer mit mächtigen Zähnen kommt." Ich erschrak sehr und fing fast an, Tränen zu vergießen. Zu meinem Trost sprach die Freundin weiter: "Spucken wir diese Bonbons hinaus. Wenn das Ungeheuer kommt, tritt er dadrauf und fällt hin. Es kann uns dann nicht schrecken." Ich spuckte meinen Bonbon sofort aus, obwohl der mir sehr schmeckte. Sie machte ebenso. Am Abend, als ich zu Bett ging, dachte ich lange noch an dieses Ungeheuer. Nun war ich aber ruhig, weil ich glaubte, daß diese zwei Bonbons das Ungeheuer zurückhalten. (RKM, KP 60,44 < Tartu - Irje Karjus < Mädchen, 6. Klasse, 1994)  

Sehr phantasiereich sind die Situationspiele, die in solchen Orten entstehen (Ruinen, Kellerräume, Höhlen), wohin Kinder gemeinsam gehen und wo sie bereit sind, entsetzliche Geschehnisse und schreckliche Wesen zu erleben. Solche Spielgänge sind unermeßlich, sie rufen ein effektvolles Angstgefühl oder Grauen hervor, worüber man sich später noch lange unterhalten kann.

3. SCHRECKENSPIELE

a) Das Spiel folgt dem Moment des Schrecks.

Das sind Schreckenspiele, zu denen auch die sogenannten Schockgeschichten gehören, (Die Schockgeschichte ist eine Schaudergeschichte, die ein Ende hat, an dem der Erzahler jemanden von Zuhorern packt oder in einer anderen Weise erschreckt) Oft entwickelt sich solche Geschichte weiter zu einem Spiel Die Geschichte selbst wird einfacher, dem Schreckeffekt folgt noch eine Tatigkeit, die vom Inhalt der Geschichte ausgeht

 Die Voraussetzung ist, daß an diesem Spiel 7-8 Kinder teilnehmen Die Spieler werden geteilt Die Halfte geht in das dunkle Zimmer Die anderen bleiben zuerst hinter der Tur und vereinbaren sich, wer der Erzahler und wer der Erschrecker ist Dann gehen auch sie m das Zimmer und stellen sich unter die anderen Der Erzahler fangt an, eine Schaudergeschichte zu erzahlen (schwarze Hand, Hexe, schwarzer Mann), und versucht dabei die Zuhorer in Angst zu versetzen Im richtigen Moment greift der Erschrecker das Kind, das neben ihm steht, an und schreckt es Dann ist alles durcheinander Der Betroffene zuckt "vor Schreck" zusammen Es folgt der improvisierte Teil, in dem Jeder Spieler mit dem Opfer etwas anfangen, ihn schmucken (z B ihn etwas an- oder ausziehen) darf Zum Schluß schaltet man das Licht ein und schaut sich an, wie dieses Kind aussieht Das Endeffekt ist oft komisch (RXM, KP 60, 42 <Tartu-Irje Karjus < Madchen, 25 J (1994))  

Ein Spiel das mit dem Angsteffekt anfangt, kann sich am Ende in einen Witz verwandeln, die Angst wird durch den Humor versetzt In beiden Spielteilen gibt es gleichviel Spannung und "Nervenkitzel"

b) Spiele, deren Hohepunkt das Schreckmoment ist. Dazu gehoren

auch Spiele, in denen die Madchen von den Jungen erschreckt werden Das ist eine freie Entwicklung der Phantasie Zum Schluß laßt man etwas schreckliches und sensationelles einfallen Dazu konnte auch das Spiel "Herausrufen des Geistes" gehoren, das mit dem "Erscheinen des Geistes endet

c) Spiele, die allgemein bekannt und normalerwelse nicht mit Angst verbunden sind, trotzdem aber mit einem impulsiven oder vorgeplanten Schreckeffekt, der von einem oder mehreren Spielern ausgedacht ist, zu

Ende gehen.

 Mit Angst und Grauen verbundene Erlebnisse Der große fette rosafarbige Regenwurm Einmal, als ich noch den Kindergarten besuchte, geschah mit mir die folgende Geschichte. Es war Sommer und ich kam vom Schwimmen, obwohl ich noch nicht gut schwimmen konnte. Ich schlenderte entlang den Weg zum Omas Haus und aß ein paar rote Johannisbeeren. In der Hand hatte ich meine Strandschuhe. Ich öffnete die Haustür, betrat den Korridor und wollte gerade das Badetuch ausbreiten, als mein Vater und mein Bruder hereinkamen. In diesem Moment begriff ich noch nichts, obwohl sie schlaue Gesichter hatten. Mein Vater fragte, ob ich Lust hätte, "Kücken-Kücken"-Spiel (eine Art Versteck- und Erratensspiel) zu spielen. Ich war sofort einverstanden. Der Vater blinzelte dem Bruder und streckte seine Hände zu mir. Ich spürte zwischen meinen Händen etwas schleimiges und zappelndes. Momentan öffnete ich meine Handflächen und sah einen großen fetten rosafarbigen Regenwurm, Ich erschrak sehr und fing an zu schreien. Der Bruder lachte nur.  
 Seitdem habe ich Angst vor Regenwünnem. Wenn jemand anfängt, von Regenwürmern zu sprechen, versuche ich dieses Thema zu vermeiden.  

Solche Spiele haben ein unerwartetes Ende und können auf "unschuldige Spielopfer" einen so großen Einfluß ausüben, daß sie für das ganze Leben Spuren hinterlassen. Meistens entstehen solche Spiele unter den alltäglichen (Bekannten) Spielkameraden, wenn man nach einem neuen und spannenden Zeitvertreib sucht.

 Angst vor dem Computerspiel. Robocop  
 Einmal gegen 12 Uhr, als ich allein zu Hause war, spielte ich im Zimmer ein Computerspiel. Das Spiel hieß "Robocop". Dort muß man durch die Fabriken gehen. Es gibt da auch andere Männer, die Robocop feuern. Am Ende jeder Spielfolge gibt es einen Roboter. Am Ende der ersten Folge gibt es einen Roboter wie Ninja, in der nächsten Folge gibt es einen noch größeren Roboter als Ninja. Am Ende der dritten Folge gibt es einen großen Panzer, in dem ein kleines Männchen sitzt. Das Männchen steckt ab und zu seinen kleinen Kopf aus dem Panzer hinaus. Hier muß man flink sein und versuchen, das Männchen zu erschießen, denn sonst trifft es einen von meinen Panzern. In dieser Stelle geriet ich in Panik und ich flog mit Robocop auf. Der kleine Mann zeigte sich eben, er ist für Robocop zu groß. Das ist der Grund, warum man ihn im Fluge schießen muß. Ich traf nicht und mußte landen, weil sonst der Brennstoff zu Ende gegangen wäre. Als ich landete, hatte ich tausend Energiepunkte. Plötzlich erschien aus dem Panzerrohr eine Kugel und traf Robocop. Ich hatte dabei aber das Gefühl, daß eben ich erschossen wurde. (S. Liivamägi, 5. a Klasse)  

Das Angsterlebnis, das man von den mit Angst verbundenen Spielen erhält, unterscheidet sich von dem Angsterlebnis, das man beim Lesen der Schreckgeschichten bekommt. Ein Spiel hat immer eine Lösung, die der Spielkreis immer nach seinem Geschmack bilden kann. Als Regel ist das Spiel-Ende nicht tragisch. Das Ende einer Schreckgeschichte kann aber auch (nach dem Wunsch des Erzählers) offen bleiben oder tragisch sein. Daraus folgt, daß ein Angsterlebnis, das man von einer Geschichte erhält, länger im Gedächtnis bleibt und den Stoff zum Nachdenken gibt als ein im Spiel erhältliche Angsterlebnis, das letztgemeinte ist aber viel stärker und gibt immer wieder den Grund zum Spielen.