MEINE BEZIEHUNG ZU GESPENSTERN UND ZU GESPENSTERGESCHICHTEN. DIE ERGEBNISSE EINER STUDENTEN-BEFRAGUNG

Guntis Pakalns. Riga

Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre (besonders 1989-1991) fanden im Baltikum groBe Veranderungen statt, nicht nur in der Politik, sondem auch in der Lebensweise, in der Denkweise und in der kulturellen Onentierung der Leute Diese Zeit war auch fur einen Folk-lonsten, der die gesellschaftliche Entwicklung in der Gegenwart auf-merksam verfolgt, sehr mteressant und aufschluBreich Ich erwahne nur einige Beispiele Demonstrationen, Massenversammlungen und die gan-ze Kultur der Bamkadenzeit (1991) mit ihren ntuellen Formen, alten und neuen patnotischen Liedem, Spnchwortem und Reimen, prachtvolle Mythenbildung uber Vergangenheit und Zukunft, rasche Veranderungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktionen und Interpretationen dieser Mythen, Entstehung von Parodien - nicht nur uber bestimmte Aussagen von Politikem, sondem auch uber ganz neue Erscheinungen, wie z V die aufdnngliche auslandische Reklame im Fernsehen usw Durch die Aufhebung der Zensur wurdenjetzt solche Themen in der Offentlichkeit diskutiert, die bis dahin verboten, verdrangt odertotgeschwiegen waren, z V Sexualitat und Gewalt, Minderheiten verschiedener Art, Religion in ihren vielfaltigen Erscheinungsformen usw Diese Themen wurden von einer immer freier werdenden Presse und anderen Medien gleng aufgenommen und verarbeitet

Zu diesem Themenkreis zahlte auch der sogenannte "modeme Aber-glaube" Wir hatten damals mit einer in diesem Umfang me dagewesenen, den gesamten sowjetischen Raum erfassenden UFO-Welle zu tun Esgab zahlreiche UFO-Sichtungen, es wurden Vorlesungen gehalten, Pub-likationen veroffentlicht und Prophezeiungen verkundet. Die neu ent-stehenden Zeitungen behandelten dieses Thema in aller Breite und mit erstaunlicher Ernsthaftigkeit. Fastjede Woche erschienen Artikel uber Poltergeister und andere seltsame Erscheinungen, wie z. B. astrale oder materielle Wesen aus dem Jenseits, Zombies, Vampire und Men-schenfresser, die angeblich alle unteruns leben. (Die Zeitungen aus dieser Phase bilden deshalb heute eine wichtige Quelle fur den Folkloristen.) Wunderheiler und andere parapsychisch Begabte traten mit Massenhei-lungen und "wissenschaftlichen" Vorlesungen an die Offentlichkeit und iibten mit ihren Ausfuhrungen einen wesentlichen Einfluss auf die da-malige Weltanschauung aus. Die Arbeiten auslandischer Wissenschaftler uber die Erfahrungen klinisch Toter wurden oftmals nacherzahit und abgehandelt. Auch Horoskope und Zukunftsprophezeiungen (Nostradamus u. a.) fesselten damals das Interesse der Massen. Insgesamt herr-schte eine regelrecht chiliastische Stimmung, wie weim das baldige Welt-ende bevorstunde.

Wie konnte man diese Hochkonjunktur des "Aberglaubens" in der damaligen politisch wie existenziell unsicheren Ubergangszeit erklaren? Ich glaube, daB das in groBen Ziigen mit einem Gleichnis eriautert werden kann. Friiher befand sich das fur den sowjetischen Menschen unzugang-liche und "verbotene" Meer der Informationen hinter dem "eisemen Vorhang". Dieser Vorhang war gleichsam ein groBer Damm, eine fur den Sowjetmenschen unuberwindliche Sperre. Als dieser Informations-damm gebrochen war, verursachte die Information eine Art Uber-schwemmung im Bewusstsein und im Leben der Leute. Das erklart auch, warum sich diese Welle jetzt fast vollstandig gelegt hat. Der Informa-tionsbedarfist befriedigt, der Raum fur Informationen dieser Art in den Kopfen der Leute 1st "voll". Das Interesse nimmt schnell ab, wenn keine neue Information hinzukommt. Die Themen, die vor einigen Jahren noch im Brennpunkt des Interesses aller waren, werden jetzt nur noch von kleinen Gruppen behandelt, oder sie sind zum unterhaltsamen Lesestoff der Sensationsblatter geworden. Die anfangliche Begeisterung uber alle Veranderungen ist voriiber. Die Gesellschaft ist mit den drangenden Sor-gen des alltaglichen Uberlebens beschaftigt, und dies hat auch zu einer "Landung" der offentlichen Diskussion gefuhrt.

Gegen Ende dieses veranderlichen Zeitalters (Pakalns 1995) hatte ich im Fruhlingsemester 1993 die Moglichkeit, an den philologischen und padagogischen Fakultaten der Universitat Lettlands Vorlesungen uber Volkserzahlungen zu halten Traditionell wird das Thema Volkserzahlungen und Erzahlforschung so aufgearbeitet, dafi am Anfang die Marchen und die Theorien der Marchenforschung ausfuhrlich behandelt werden, und erst danach geht man kurz aufSagen, Witze und andere Erzahlformen, darunter manchmal auch aufaktuelle Erzahlstoffe, ein, wenn die Zeit es eriaubt Ich dagegen wahlte einen anderen Aus-gangspunkt und entwickelte einen anderen Vorlesungsplan Am Anfang stand erne kurze Einleitung in die Gattungsprobleme In dieser Einleitung kritisierte ich die leider immer noch sehr verbreitete Vorstellung, als daB man alle Volkserzahlungen in acht "Kastchen" unterbnngen konnte. Dieser Mythos wird (mmdestens in Lettland) von den Lehrbuchem weitergegeben und er bestimmt auch die Pnnzipien der Archivierung: drei Arten von Marchen, drei Arten von Sagen, Witze und andere Erzahlungen (bzw Ennnerungserzahlungen ohne mythologischen In-halt) Statt dessen refenerte ich einen zusammenfassenden Artikel uber Gattungsprobleme von L Honko (Honko 1989) und erklarte das dort behandelte "Quadrat" von Littleton (Littleton 1965), wonachdie Sagen im Zentrum stehen und sich die Motive der Geschichten ziemlich frei im zweidimensionalen Raum (factual - fabulated, profane - sacred) bewegen konnen, so dafi ein und dasselbe Motiv verschiedene Gattungsmerkmale annehmen kann AnschlieBlich wurden die Studen-ten ausfuhrlich bekannt gemacht mit den Erzahlgattungen, die heute ak-tuell und sehr produktiv sind und die die Studenten leicht mit ihrer All-tagswelt in Verbindung bnngen konnten. Das waren z V in den letzten Wochen gehorte, vom Fernsehen oder von den Zeitungen benchtete Sen-sationen, Witze, Geruchte, modeme Sagen und besonders Gespenster-geschichten, die damals gerade sehr popular und aktuell waren Das heiBt, ich ging von der Gegenwart aus, und die Marchen behandelte erst zum SchluB, nachdem wir uns aufgrund der aktuellen, personlichen Er-fahrung eme Vorstellung von den Funktionen der Erzahlungen fruherer Zeiten erhalten hatten.

Hier muß ich noch anmerken, daß mit dem Namen Gespensferge-schichten im heutigen Lettland mmdestens zwei ziemlich unterschiedh-che Gattungen der "mundlichen Prosa" bezeichnet werden 1) Die vor allem unter Kindern viel erzahlten Gruselgeschichten, die in Mehrzahl nicht urn Gespenster handein Die wichtigste Funktion dieser Geschichten ist nicht mformativ, sondern unterhaltsam In manchen Fallen dienen sie auch dazu, die eigenen Angste zu erkennen und Strategien zu eriemen, wie man sie bewaltigen kann. Diese Gattung war bis Anfang der neunziger Jahre nur aufgrund mundlicher Weitergabe bekannt. Durch Veroffentlichungen in den fur Kinder bestimmten Zeitungen und danach durch mehrere Kinderbucher auf Lettisch und auch auf Russisch (Rungulis 1991, Rungulis 1992, Uspenski & Usajev 1991) wurden Gruselgeschichten in gedruckter Form verbreitet, und die Geschichten dieser Bucher wurden im Kindermilieu weitererzahlt. 2) Verschiedene traditionell zu den damonologischen Sagen gezahlte Geschichten uber Begegnungen der Menschen mit Vertretern "der ubematurlichen Welt". (Der Ausdruck "ubematurliche Welt" ist aus dem Volksmund ubernommen und kein wissenschaftlicher Terminus. Er spiegelt die Interpretation durch den Erzahler wider, der in aller Regel die Tatsachlichkeit des Erzahlten ausdrucklich hervorhebt.) Solche Vertreter der ubematurlichen Welt konnen z. B. Geister der Verstorbenen oder Tote und verschiedene Erscheinungen im Augen-blick des Todes sein. Hierher gehoren auch Geschichten uber Orte, an denen man selfsame Gerausche, Gestalten oder Ahnliches sehen oder filhien kann. Zu den Gespenstergeschichten im weitesten Sinne zahlen auch die zahlreichen Sagen uber verzaubertes Geld, das in menschlicher, tierischer oder anderer Gestalt erscheint, uber Alp, Teufel, Hexen, fliegende Drachen usw.

Die Bedeutung der Gespenstergeschichten fur das Verstandnis der Sagen hat schon Anss Lerchis-Puskaitis erkannt, der Autor der ersten groBen Veroffentlichung lettischer Marchen (ca. 1900 Texte) und Sagen (ca. 3300 Texte) in 7 Banden (1891-1903). Im Zentrum seiner Klassifi-kation der Volkserzahlungen stehen gerade die Sagen uber Seelen und Verstorbenen. Bei meinen Feldforschungen habe ich in den letzten zehn Jahren ziemlich viele Leute kennengelernt, die glauben, daß sie selbst oder ihre nahen Verwandten und Bekannten Begegnungen mit Geistem der Verstorbenen oder anderen Vertretern aus dem Jenseits gehabt haben. Nach meiner "Performance" im Femsehen vor einigen Jahren und nach dem Erscheinen einiger Artikel in der Presse Lettlands zu diesem Thema habe ich mehrere Hunderte Briefe erhalten, in denen uber solche Geschichten berichtet wird. Auch in der Kartothek der lettischen Sagen (die fast alle 57 000 im Lettischen Folklorearchiv dokumentierten Sagen enthalt; leider sind die Texte noch nicht genug detailliert und auch nicht konsequent geordnet) kann man viele Sagengruppen linden, die nicht nur Internationale Sagenmotive (Fabulate), sondern auch zahlreiche in der ersten Person erzahlte Geschichten uber personliche Erfahrun-gen und oft nut vielen konkreten Details (bzw Memorate) enthalten Obengenannte Annahme hat mich in der Uberzeugung gefestigt, daß die Memorate den lebendigen Kern der Sagen und der Gespenstergeschichten bilden konnen Fui die Klassifikation smd hier nicht so sehr traditionelle Internationale Sagenmotive als typische Situationen (z V die Erscheinungen im Augenbhck des Todes) von Gewicht

Fur meine damaligen Vorlesungen (ich hatte damals noch wenig Zu-gang zu Literatur aus dem Ausland und muBte daher vieles selbst he-rausfinden, erarbeiten und systematisieren) wollte ich auch etwas von den Studenten zuruckbekommen Ich dachte an erne Art schnftlichen Dialog zwischen den Studenten und mir Daruber hmaus wollte ich sie davon uberzeugen, daB in der Folklonstik die Selbsterkenntnis von sehr groBer Bedeutung ist, daB hierjeder em interessantes Forschungsobjekt sein kann Darum stellte ich ihnen die Aufgabe, erne Sammlung von ihnen selbst bekannten oder von Eitem und anderen Gewahrsleuten stam-mende Geschichten aufzuzeichnen (Spater habe ich festgestellt, daB die meisten Erzahlungen der Studenten zur Gattung der Gespenstergeschichten gehorten ) AuBerdem sollten sie die Gespenster- und Grusel-geschichten von den oben genannten Kinderbuchern analysieren

Nach zwei oder drei Vorlesungen, in denen ich schon viele Gespenstergeschichten selbst erzahit und Beispiele aus meinen Tonbandauf-nahmen vorgespielt hatte, muBten die Studenten eine kurze Arbeit uber das bewuBt provokativ formuherte 7hema "Meine Beziehung zu Ge-spenstern und zu Gespenstergeschichten" schreiben Fur diejemgen, die sich noch nicht im klaren daruber waren, was sie schreiben sollten oder wollten, erklarte ich, daB sie 1) eigene Erfahrungen von Begegnungen nut Gespenstem (wenn sie solche hatten) oder mit Gespenstergeschichten in der Kindheit und heute (bzw Erzahlsituationen) beschreiben konnten, 2) darlegen sollten, in welchem MaBe sie fruher an diese Geschichten geglaubt haben bzw heute noch glauben Ich wollte besonders etwas uber den Kontext erfahren, in dem diese Geschichten erzahit werden

Ich erhielt 25 Arbeiten, die meistens 1-3 Seiten lang waren (Nicht alle Studenten hatten etwas geschrieben) Die Mehrzahl von ihnen waren Studentinnen, daneben nur zwei Studenten Selbstverstandlich ist das keine \vissenschaftlich genaue und noch weniger erne umfangreiche Befragung, sie gibt aber einen Einblick in die Meinungen, die Erfahrungen und die Weltanschauung der heutigen Studenten. Sicherlich waren auch Einflusse meiner Voriesungen spurbar, aber dieser Faktor war im groBen und ganzen eher unbedeutend und leicht zu neutralisieren. Ich hatte mit diesen Voriesungen ja nicht nur informieren wollen, sondem auch die Absicht verfolgt, die eigenen Erinnerungen meiner Horer zu diesem Thema zu wecken und den groBen Wert der personlichen Erfahrungen auf dem Gebiet der FoH.; Jristik einsichtig zu machen. Leider eriaubt es der hier zur Verfug.Jig stehende Platz nicht, alles ausfuhrlich zu er6rtem, was von den Studenten eingegangen ist, aber ich mochte zumindest einige charakteristische Themen beruhren.

Das Material enthielt interessante Information fiber das Erzahlenvon Gespenstergeschichten in der Kindheit der Studenten. Ahnliche Beschrei-bungen waren mir bis dahin nur aus der fremdsprachigen Literatur bekannt. Es ist eine charakteristische Erzahlsituation, daB mehrere Kinder in einem dunklen Raum zusammenkommen und die fur Kinder typischen Gruselgeschichten erzahlen (z. B. von den Eitern, die im Hackfleisch den Fingemagel ihrer verschwundenen Tochter finden; von einem Arm, der aus einem Schrank herauswachst; von den roten Schuhen, die die Beine auf&essen usw.). Hier werden manchmal auch Elemente aus den Kinderspielen benutzt, einige Geschichten wurden von den Teilnehmem selbst inszeniert.

Interessant war auch, daB fastjeder Student irgendwelche personlichen Erfahrungen uber die Beteiligung an "spiritistischen Sitzungen" zu schildem wuBte. In solchen Sitzungen wird ein Teller auf einem mit Buchstaben und Zahlen beschriebenen Blatt bewegt, um aufdiese Weise von den Geistern (z. B. von Schriftstellern, Politikern oder anderen be-kannten Personlichkeiten) Antworten aufgestellte Fragen zu bekommen. Andere erzahlten, daB sie in einem dunklen Zimmer mit einer mehrfach wiederholten Formel die "schwarze Dame" (o. a.) herbeigerufen und dann in groBer Angst gewartet batten, ob diese Dame erscheint oder nicht. Einige hatten solche "spiritistische Sitzungen" in der Kindheit eriebt, andere in der Schule oder wahrend der Studienzeit.

Auffallend ist, wie Studenten das Angstgefuhl beschrieben, das sie dabei empfunden hatten. Fur einige war die Angst so stark, daB sie nie-mals mehr mit "solchen Sachen" zu tun haben wollten. Das Motiv der Angst spielt in diesem Kontext eine groBe Rolle, und dies nicht nur in bezug auf Gruselgeschichten oder Spiele in der Kindheit. (Hier waren auch die typischen Angste von Kindem zu erwahnen, wie die Angst allein zu Hause zu bleiben oder in ein dunkles Zimmer zu gehen.) Ziemlich viele sind der Meinung, daB sie gegendber paranormalen Erscheinungen und angsterregenden Spielen sensibler sind als andere. Sie schauen sich nicht geme Horrofiime an, einigen schienen sogar manche Geschichten, die ich wahrend der Vorlesungen erzahit hatte, als zu "starker Tobak". Vielleicht ist der Anteil der Personen mit dieser psychischen Eigenschaft etwas hoher unter Studenten, die eine geisteswissenschaftliche Fachrichtung gewahit haben. Es ist aber auch moglich, daB die Betonung dieser Sensibilitat nicht bei alien einer aufrichtigen Selbstbeobachtung entspricht. Sie konnte auch mehr oder weniger die Funktion haben, die personliche Identitat unter Beweis zu stellen. Besonders fur Jugendliche ist es sehr wichtig, ein biBchen anders als andere zu sein. Dennoch befanden sich injeder Studentengruppe (und dasselbe habe ich auch bei den Zuhorern in meinen offentlichen Vorlesungen bemerken konnen) einige Personen, die uber tiefere personliche Erfahrungen sehr emsthaft berichten konnten. Nach einer Pruning war eine Studentin absichtlich als letzte im Raum geblieben, um mir dann ziemlich lange uber ihre eigenen Eriebnisse und Traume zu erzahlen. Sie wollte erfahren, was ich dariiber meine. Moglicher-weise hatte sie von mir auch psychologische Hilfe erwartet.

Viele Aussagen in den Arbeiten der Studenten ermoglichen Einblicke in die Glaubensvorstellungen der heutigen Jugend (nicht nur zum Thema "Gespenster"). Zwei Studenten haben zum Beispiel ihre Angst vor Spie-gein beschrieben. (In der damals weit verbreiteten Literatur "die ilber-sinnlich Begabten" immer wieder davor warnten, daB ein Spiegel friihere Bilder, Gesichte und Ereignisse speichem kann, die spater negative Aus-wirkungen haben. Darum wurde empfohlen, alte Spiegel nicht in Wohn-und Schlafzimmern aufzustellen.) Einige haben davon berichtet, daB sie nachts das Gefuhl batten, als ob irgendjemand in ihrem Zimmer ware, den sie nicht sehen konnen (diese Falle wurden in der damaligen UFO-Literaturerwahnt).

In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, wie solche Pha-nomene in der Regel erklart werden. Eine Studentin meinte, die Ge-spenstererscheinungen traten als Nebenwirkung von Medikamenten auf, oderes handele sich um Bilder aus dem UnterbewuBtsein. Hierbei muB man beachten, daB die Erklarung (Interpretation) ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Gespenstergeschichte ist, auch dann, wenn (und meistens ist das der Fall) sie nicht direkt und absichtlich formuliert wird Es ist paradox, daß es gewöhnlich nicht so wichtig ist, ob diese Erklärung zutreffend und wahr ist Das Wichtigste daran ist, daß der Mensch offenbar irgendeiner Erklärung bedarf, damit seine Weltanschauung stabil bleiben kann)

Die Frage, ob die Studenten an Gespenster und Gespenstergeschichten glauben, konnte in den meisten Fallen nicht einfach positiv oder negativ beantwortet werden Es gab hier verschiedene Zwischenstufen In vielen Arbeiten kann man solche und ähnliche Aussagen finden, die nach Form und Inhalt schon formelhafte Zuge angenommen haben, z B "Ich habe zwar selbst noch kein Gespenst gesehen, aber ich glaube, daß es sie gibt" oder "Ich glaube, daß es etwas Übernatürliches gibt, etwas, das der Mensch mit seinem Verstand nicht fassen kann Meines Erachtens ist das eine Sphäre der Wirklichkeit, in die der Mensch nicht eindringen sollte Ich selbst habe noch kein Gespenst zu Gesicht bekommen, und ich mochte auch nie eines sehen, weil ich Angst davor habe " Die Studenten ausserten immer wieder das Bedürfnis, über die Glaubwürdigkeit jeder einzelnen Geschichte gesondert zu diskutieren Sie ordneten die Geschichten einer Skala zu, die von ganz glaubwürdig, über teilweise glaubwürdig bis ganz unglaublich reichte Ein Beispiel Zur damallgen Zeit neu entstanden und gleich sehr populär war die Geschichte, daß in einer Stadt Lettlands (Bauska) auf der Wand eines neugebauten Mehrfamilienhauses ein großer Feuchtigkeitsfleck erschien, der Umrisse eines Soldaten hatte Es stellte sich heraus, das dieses Haus auf einem alten Friedhof aus dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden war Von dieser Erscheinung meinten damals ziemlich viele Studenten, daß sie wahr oder zumindest glaubwürdig sei Es versteht sich von selbst, daß aus Zeit- und Platzgrunden ein großer Teil der Analyse dieser Studentenarbeit hier ausbleiben muß Abschließend mochte ich noch einiges über meine allgemeinen Erfahrungen mit Gespenstergeschichten sagen Sie stammen nicht nur aus der hier geschilderten Studentenbefragung, sondern von meiner Beschäftigung mit Gespenstergeschichten seit mehr als zehn Jahren.

Ein Folklorist kann sich solche Geschichten anhören, sie sammeln, in Archiven ordnen und erschließen, in Sagenbüchern veröffentlichen und auch innerhalb der Grenzen seiner Kenntnisse interpretieren Aber ein Folklorist kann, so wie Jeder andere Wissenschaftler, wenn er Wissenschaftler bleiben will, weder bestatigen noch leugnen, da6 es Gespenster gibt Er muß sich auch jeder Ausserung daruber enthalten, was Gespenster ihrem Wesen nach sind Dennoch wird gerade die Antwort aufdiese Fragen immer wieder von Wissenschaftlern erwartet So \iel konnen wir als Folklonsten immerhin wissen, daB es in der Volkskultur sehr viele Geschichten (darunter auch Memorate) uber Gespenster gibt und dafi sie haufig als wahre Geschichten angesehen und weitergegeben werden.

Wenn sich ein Wissenschaftler professionell mit Gespensterge-schichten beschaftigen will, stoßt er relativ haufig gegen die Grenzen seiner eigenen Moglichkeiten und gegen die Grenzen der Wissenschaft uberhaupt Nehmen wir zum Beispiel das Problem mit den UFO-s Wir konnen ein sehr ernstes Gesicht machen und etwas mdigmert darauf hmweisen, daB kein emst zu nehmender Wissenschaftler sich mit solch emem Aberglauben abgibt Aber das ist memes Erachtens erne zweifelhafte Haltung Em Geisteswissenschaftler, der sich fur die Gesellschaft der Gegenwart mteressiert, kann den Glauben an diese Dinge mcht ignoneren Wir konnen nicht daruber hinwegsehen, daB solche Geschichten im Umlauf sind und auch heute noch die Geister erregen.

In der heutigen Gesellschaft sind Tod und Jenseits weitgehend ta-buisierte Themen, uber die nicht oft gesprochen wird Dennoch konnen sie auch fur die zeitgenossische Weltanschauung von grundlegender Be-deutung sein Zu diesem Thema sind sehr viele Bucher geschneben und verschiedene Interpretationen angeboten worden In fastjeder Religion nimmt dieses Thema einen ziemlich wichtigen Platz ein Hier laBt sich ein gemeinsamer Kem mtuitiv spuren, und personlich erzahlte Gespens-tergeschichten eriauben es manchmal, diesem Kem sehr nahe zu kom-men Aber uber dieses Thema muB sichjederMensch selbst Gedanken machen Kein anderer kann ihm seine Uberzeugungen aufdrangen.

Gespenstergeschichten entstehen und kursieren auch heute noch Fur Folklonsten bilden sie eme wichtige Brucke zwischen den Volkserzah-lungen der traditionalen Bauerngesellschaft und den heutigen Erzah-lungen der Industnegesellschaft, diejetzt durch die Massenmedien erne rasche Verbreitung finden Sie konnen uns helfen, andere Gattungen der traditionellen Volksdichtung zu verstehen In der Zeit des Sozialismus haben die Gespenstergeschichten Jahrzehntelang ein von den Massenmedien fast unberuhrtes Leben in der unoffiziellen mundlichen Kultur gefuhrt und sind auf diese Weise auf einem alteren Stand konserviert worden. In den letzten Jahren kann man beobachten, wie schnell sich die Stoffe andem, wenn sie von Schriftstellern bearbeitet oder von den Massenmedien aufgegriffen werden. Und haufig kann man beobachten, wie dieselben Geschichten, wenn sie so popular geworden sind, daB sie in die mundliche Tradition zuruckkehren, wieder die vorige Form einer kurzen Geschichte, ahnlich einer Sage, annehmen.

Die Personengmppe, die von sich behauptet, irgendwann Gespenster gesehen zu haben oder die an solche Geschichten glaubt (und mogli-cherweise ist diese Personengruppe sehr groB), kann als Minoritat an-gesehen werden. Wenn wir in Lettland eine demokratische Gesellschaft aufbauen wollen, miissen wir es lemen, auch dieser Minoritat mit Tole-ranz zu begegnen, so wie anderen Minoritaten nationaler, religioser oder sexueller Art.

Moglicherweise ist es heutzutage nicht so wichtig, Gespensterge-schichten immer tiefschurfender zu erklaren und immer intelligenter zu interpretieren, als sie vielmehr weiterzuerzahlen. Viele Menschen haben zum Beispiel die Erfahrung eines klinischen Todes. Fur diese Menschen kunnte es hilfreich sein, zu erfahren, daB andere Menschen ahnliches eriebt haben, daB sie damit nicht alleine dastehen, daB sie nicht verruckt oder krank sind, wenn sie Geister gesehen haben, andere selfsame Er-fahrungen haben oder uber seltene Fahigkeiten verfiigen. Dieser Gedanke war in der sozialistischen Gesellschaft unterdriickt. Ich bin der Meinung, daB das Erzahlen und die Kommunikation fiber solche Geschichten, die in den traditionellen Kulturen eine so groBe Rolle gespielt haben, auch heute zum seelischen Gleichgewicht der Bevolkerung beitragen.

Ich bin davon uberzeugt, daB die Folkloristen mit ihren gesammelten Materialien, spezifischen Kenntnissen und Methoden dem heutigen Menschen Hilfe leisten konnen bei der Bewaltigung der immer schwieriger werdenden Aufgabe, sich in unserer komplizierten Welt zu orientieren.

Literatur

Honko, L. 1989: Gattungsprobleme. Enzyklopadie des Marchens; fast ahnlich in Englisch: Honko, L. 1989: FolkloristicTheories of Genre. Siikala A.-L. (ed.), Studies in Oral Narrative. (Studia Fennica 33) Helsinki, pp. 13-28.

Littleton, C. S. 1965: A Two-dimensional Scheme for the Classification of Narratives. Journal of American Folklore: 78. Pakalns,G. 1995: Ghost Narratives in Latvia-Changes During Recent Years. FOA Ftale News No. 37, pp. 1-3.

Rungulis, M. 1991: Spoku stasti. Riga.

Rungulis, M. 1992: Spoku unjoku stasti. Riga.

Uspenski, E. & Usajev, A. 1991: Uzhasny folklor sovetskikh detej. Riga.